Therapie & Versorgung
Im Folgenden haben wir für Sie zusammengefasst:
- Besonderheiten in der Therapie von Kindern und Jugendlichen mit FASD
- Interventionsempfehlungen nach S3-Leitlinie
- Telemedizinisches Eltern-Kind-Training „SMILE FASD“
- Tipps für den Alltag
- Literatur (Auswahl)
Wenn Sie Fragen haben, können Sie sich gerne an uns wenden: fasd@med.uni-muenchen.de.
Ihr Team des Deutschen FASD KOMPETENZZENTRUM Bayern
Besonderheiten in der Therapie von Kindern und Jugendlichen mit FASD
Biologisch definierte Gehirnschädigung
Menschen mit FASD haben eine alkoholtoxische Gehirnschädigung, die biologisch nicht reparabel ist. Das bedeutet, dass es keine kausale Therapie für FASD gibt. Funktionelle Therapien und Förderungen, das heißt Maßnahmen, die zwar nicht die Ursache der Krankheit beseitigen, aber gewisse Verbesserungen von Fertigkeiten bzw. Reduktionen von Defiziten bewirken, sind bei Kindern und Jugendlichen mit FASD möglich und medizinisch-ethisch erforderlich.
Diversität der Symptomatik von FASD interindividuell
Hinsichtlich der Förderung ist wichtig zu realisieren, dass die an FASD erkrankten Kinder und Jugendlichen komplexe Defizite in verschiedenen Funktionen des zentralen Nervensystems haben und kein einheitliches neuropsychologisches Profil aufweisen [1]. Eine einheitliche, spezifische Therapie, die diagnosebezogen für alle Patienten des gesamten Spektrums alkoholinduzierter Störungen geeignet wäre, gibt es also nicht. Die Therapie sollte wegen der Symptomvielfalt des FASD daher nicht diagnose-, sondern symptomorientiert ausgerichtet sein sowie individuell geplant und dem jeweiligen Verlauf angepasst werden.
Diversität der Symptomatik von FASD intraindividuell
Die Auffälligkeiten des Kindes mit FASD, die von den Eltern und sonstigen Bezugspersonen beobachtet werden und gemeinsam mit dem Kind bewältigt werden müssen, ändern sich im Entwicklungsverlauf. So zeigen zum Beispiel Säuglinge mit FASD häufig Regulations- und Fütterstörungen; Kleinkinder fallen oft durch unaufmerksames Spiel und geringe Frustrationstoleranz auf; Schulkinder können Schwierigkeiten haben, Freunde zu finden oder zu halten oder sich in eine soziale Gruppe zu integrieren, außerdem haben sie häufig Lern- und Schulprobleme; Jugendliche mit FASD zeigen oft deutliche Aufmerksamkeits-, Impulskontroll-, sonstige Verhaltens- und Schlafstörungen und können in die Delinquenz abrutschen, eine psychiatrische Erkrankung inkl. Suchtstörung entwickeln oder Opfer von Misshandlung werden.
Daher wird bei der Unterstützung einer Familie mit Kindern und/oder Jugendlichen mit FASD aus unserer Erfahrung ein Case Management mit multiprofessionellem Team benötigt, das folgende Aufgaben hat:
- patientenzentrierte Planung
- dynamische Gestaltung
- kontinuierliche Beratung der Eltern und anderer Bezugspersonen
- interdisziplinäre Kommunikation
- Bestimmung von und Zusammenarbeit mit relevanten Netzwerkpartnern
- Kontinuierliche Anpassung der Therapie im Verlauf
Gedächtnisprobleme
Die Therapie von Kindern mit FASD gestaltet sich auch deswegen schwierig, weil viele betroffene Kinder deutlich mehr Wiederholungen, teils über verschiedene Wahrnehmungskanäle, benötigen als gesunde Kinder, um sich Gelerntes längerfristig zu merken. Auch verlieren Kinder mit FASD oft von einem Tag auf den anderen Gelerntes wieder aus dem Gedächtnis bzw. können es nicht mehr abrufen. Dies hat die Konsequenz, dass Lerninhalte, die über Wochen beherrscht wurden, verloren sind und wieder von Null an erarbeitet werden müssen. Dabei sind unter Lerninhalten sowohl schulische Inhalte als auch intra- und extrafamiliäre Verhaltensregeln zu verstehen – der Impact der Merkfähigkeits- und Gedächtnisstörung ist also immens.
Exekutivfunktionsstörungen
Die Störung der Exekutivfunktionen bei Kindern und Jugendlichen mit FASD beinhaltet z.B. Schwierigkeiten, 1) Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zu erkennen, 2) mehrsequentielle Handlungen zu planen und mit Korrekturmöglichkeit auszuführen, 3) aus Fehlern zu lernen und 4) Gelerntes auf andere Situationen, Personen oder ähnliche Aufgaben zu transferieren. Auch von einer Exekutivfunktionsstörung sind viele Bereiche des Lernens, Alltags und häuslichen Lebens betroffen. Wichtig dabei ist auch, dass das aus der Exekutivfunktionsstörung resultierende, inadäquate Verhalten von Kindern und Jugendlichen mit FASD durch Bezugspersonen oft als bewusste (persönliche) Provokation oder Aggression fehlinterpretiert wird. Die aus der Fehlinterpretation folgenden negativen Haltungen und Strafen der Bezugspersonen sind für die Kinder und Jugendlichen mit FASD wiederum nicht verständlich und damit extrem frustrierend oder beängstigend.
Ein interdisziplinäres Setting mit einem multiprofessionellen Team (wie z.B. in einem Sozialpädiatrischen Zentrum – SPZ) ist für die frühzeitige und adäquate Diagnosestellung und darauffolgende Initiierung, Koordination und im Verlauf Anpassung der Therapie und Förderung sowie langfristige Begleitung und Unterstützung der Familien für die meisten Kinder und Jugendlichen mit FASD sinnvoll und notwendig.
Interventionsempfehlungen nach S3-Leitlinie
Im Folgenden sind die Empfehlungen der S3-Leitlinie bezüglich Interventionsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche mit FASD zusammenfassend dargestellt. Die genauen Empfehlungen sind in der S3-Leitlinie zu finden: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/022-025
1. Verbesserung des neuropsychologischen Funktionsniveaus/Gehirnfunktionsniveaus der Kinder/Jugendlichen mit FASD
Kinder mit FASD zeigen vielfältige kognitive, emotionale und verhaltensbezogene Beeinträchtigungen, ohne ein einheitliches neuropsychologisches Profil. Die Leitlinie empfiehlt ein frühzeitiges, interdisziplinäres Förderkonzept, das individuelle Entwicklungsbedarfe berücksichtigt. Eine umfassende Diagnostik ist essential, um mögliche Begleiterkrankungen wie Intelligenzminderung, Sprachstörungen, Epilepsie oder ADHS zu erkennen und leitliniengerecht zu behandeln.
Soziale Kompetenzen sollten gezielt trainiert und bei Bedarf medikamentös unterstützt werden. Sowohl bei Schwierigkeiten in sozialen Fertigkeiten als auch bei Aufmerksamkeits- oder exekutiven Funktionsstörungen ist eine Kombination aus neurokognitivem Training und elternbasierten Maßnahmen sinnvoll.
Jegliche Trainings (sowohl des Kindes als auch der Eltern) sollten immer an die jeweiligen Fähigkeiten und kognitiven Voraussetzungen des Individuums angepasst werden. Eltern und Fachkräfte benötigen systematische Schulung. Die Förderung sollte anhand eines individuellen Förderplans erfolgen, der regelmäßig überprüft wird.
Die Anwendung einer tDCS (engl. transcranial direct current stimulation – tDCS) wird für keine neuropsychologische Funktion empfohlen.
2. Vermeidung von unerwünschten Wirkungen der Interventionen
Therapeutische Maßnahmen müssen sorgfältig auf Nutzen und Risiken geprüft werden. Medikamente sollten nur eingesetzt werden, wenn pädagogisch-psychotherapeutische Verfahren nicht ausreichend greifen.
Erfolgt eine medikamentöse Behandlung, ist eine engmaschige ärztliche Kontrolle erforderlich, unter Beachtung der S3-Leitlinien und Arzneimittelinformationen.
3. Reduktion von Komorbiditäten/Komplikationen/Sekundärerkrankungen
Kinder mit FASD sind anfällig für psychische und soziale Begleiterkrankungen wie Sucht, Misshandlung oder delinquentes Verhalten. Die Leitlinie empfiehlt ein strukturiertes, multiprofessionelles Versorgungssystem.
Regelmäßige medizinische und entwicklungsdiagnostische Kontrollen helfen, Komorbiditäten früh zu erkennen. Individuell angepasste Lernumgebungen sowie eine enge Kooperation zwischen Medizin, Therapie und Pädagogik wirken schulischen Problemen entgegen.
Alkohol-präventive neurokognitive Trainings können in Kombination mit elterlicher Psychoedukation riskantes Alkoholkonsumverhalten von Jugendlichen reduzieren. Spezielle neurokognitive Trainings zur Verhaltenssteuerung und altersgerechte Aufklärung sollen Delinquenz vorbeugen.
Um Kindeswohlgefährdungen vorzubeugen, müssen sowohl Eltern als auch Fachkräfte des gesamten Hilfesystems über die Vulnerabilität der Kinder mit FASD aufgeklärt werden. Eine koordinierte Hilfe mit Case-Management ist notwendig.
4. Verbesserung der Partizipation der Kinder/Jugendlichen
Kinder und Jugendliche mit FASD sind oft in ihrer gesellschaftlichen Teilhabe eingeschränkt. Unterstützungsmaßnahmen sollten individuell an den Alltag, die Schule und die Familie angepasst werden.
Integrationshilfen (geschult im Umgang mit FASD) können bei kognitiven Defiziten eingesetzt werden. Beim Übergang in Ausbildung sind spezielle Unterstützungsangebote bereitzustellen. Elternzentrierte Maßnahmen wie Psychoedukation stärken das Familiensystem. Wenn Betreuung zu Hause nicht möglich ist, müssen angepasste Wohnformen bereitstehen.
Trainings zur Selbstregulation und sozialen Kompetenzen fördern die Integration. Das gesamte soziale Umfeld sollte umfassend aufgeklärt und geschult werden.
5. Verbesserung der Lebensqualität
Neben funktionellen Zielen soll auch das Wohlbefinden im Fokus stehen. Hinweise deuten darauf hin, dass z. B. tiergestützte Therapien die Lebensqualität verbessern können. Interventionen sollten stets auch das subjektive Erleben der Erkrankten und ihrer Familien berücksichtigen.
6. Entlastung der Bezugspersonen (biologische, Pflege- und Adoptiv-Eltern, Bezugsbetreuer*innen) und Verbesserung der Lebensqualität der gesamten betroffenen Familie/Einrichtung
Eltern und Betreuungspersonen sind hohen Belastungen ausgesetzt. Sie sollten aktiv in die Behandlung einbezogen werden. Eine Kombination aus Aufklärung, familiärer Unterstützung und kindzentrierter Therapie kann den Stress reduzieren und die Familiensituation stabilisieren.
7. Verbesserung des Wissens um den abweichenden Gesundheitszustand / die Erkrankung/Störung/Behinderung und Verbesserung der Krankheitseinsicht
Ein besseres Verständnis der Erkrankung unterstützt die Alltagsbewältigung. Kinder sollten über FASD altersgerecht und angepasst an ihren Entwicklungsstand aufgeklärt werden. Auch ihre Bezugspersonen sollten – unter Berücksichtigung möglicher Einschränkungen (kognitiv, psychisch, usw.) – eine Psychoedukation z. B. in Form von Workshops, Materialien oder Onlineformaten erhalten. Austausch in Selbsthilfegruppen fördert zusätzlich das Verständnis. Auch die Forschung zur Krankheitseinsicht, insbesondere im Hinblick auf Risikoverhalten und Übergänge ins Erwachsenenalter, soll gestärkt werden.
8. Verbesserung der Krankheitsbewältigung/Coping und Selbstwirksamkeit
Ein reflektierter Umgang mit eigenen Einschränkungen unterstützt die Nutzung individueller Stärken. Schulen bieten ein geeignetes Umfeld zur Aufklärung über psychische Gesundheit und zum Training im Umgang mit Erkrankungen. Dies stärkt Selbstbewusstsein und Selbstkonzept von Kindern mit FASD.
9. Zusätzliche Ergänzung
Interventionen sollten sich grundsätzlich an der individuellen Lebensrealität, den Ressourcen und Zielen der Kinder orientieren. Eine bedarfsgerechte und transparente Kommunikation ist essenziell.
Fachkräfte sollen über Selbsthilfeangebote informiert sein und diese weitervermitteln. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Versorgungssystem, Forschung und Selbsthilfe ist notwendig, um Versorgungslücken zu erkennen und zu schließen.
Telemedizinisches Eltern-Kind-Training „SMILE FASD“
Im Rahmen unseres Projektes haben wir ein wissenschaftlich fundiertes, telemedizinisches Eltern-Kind-Training für Kinder mit FASD entwickelt und pilotiert: „SMILE FASD“. Ziele der Intervention sind:
- Die Verbesserung des Verständnisses des Kindes für sein Krankheitsbild
- Die Verbesserung des Verständnisses der Eltern für das Krankheitsbild ihres Kindes
- Die Reduktion der Beeinträchtigungen des Kindes
- Eine Anpassung der Erwartung und Verhaltensweisen der Eltern
- Eine langfristige Umsetzung der Trainingsinhalte
Die telemedizinische, interdisziplinäre Intervention SMILE FASD richtet sich an Kinder zwischen 7 und 12 Jahren sowie ihre Eltern bzw. Bezugspersonen. Eine Gruppe umfasst vier Kinder und vier bis acht Elternteile. Das Programm besteht aus elf Modulen: fünf für Kinder, fünf für Eltern und einem gemeinsamen Abschlussmodul. Die Module kombinieren psychoedukative und kognitiv-behaviorale Elemente, werden parallel über fünf Wochen 1mal wöchentlich für Kinder (60 min) und 1mal wöchentlich für Eltern (75-90 min) durchgeführt, und schließen in der sechsten Woche mit einem gemeinsamen Eltern-Kind-Modul ab. Inhalte sind u. a. medizinische Aufklärung über FASD, Emotionswahrnehmung, Selbstwert, Selbstregulation, soziale Kompetenzen, Aufmerksamkeit sowie Stressmanagement und Unterstützungsmöglichkeiten im Alltag.
Alle Module folgen einer festen Struktur und sind an die spezifischen Bedürfnisse von Kindern mit FASD angepasst. Aufgaben für zuhause zwischen den Modulen unterstützen die erforderliche Wiederholung zur Verfestigung der Inhalte und den Transfer in den Alltag. Das Online-Format bietet eine hohe Zugangsgerechtigkeit, Zeitersparnis für die Familien und Kosteneffizienz.
Gerne stellen wir unter diesem Link Fachkräften das Interventionsmanual SMILE FASD kostenfrei zur Verfügung. Es dokumentiert die wissenschaftlichen Grundlagen, die didaktisch-methodische Umsetzung sowie die inhaltliche Struktur der Module.
Fachkräfte in einem interdisziplinären Setting (z.B. SPZ, kinder- und jugendpsychiatrische Praxen), die das Training SMILE FASD für ihre Patient*innen anwenden möchten, können sich gerne an uns wenden, um die für das Training entwickelten PowerPoint-Präsentationen und anderes erforderliche Material (im PDF-Format) zu erfragen: fasd@med.uni-muenchen.de
Tipps für den Alltag
Wir haben zu verschiedenen wichtigen Themen rund um FASD Informationen für Sie zusammengetragen. Unter diesem Link können Sie Experten- Videos, Häufige Fragen & Antworten und Eltern-Inputs ansehen. Die Themen können sowohl für Familien als auch für Fachkräfte interessant sein.
Literatur (Auswahl)
- Goh YI, Chudley AE, Clarren SK, et al. Development of Canadian screening tools for fetal alcohol spectrum disorder. The Canadian Journal of Clinical Pharmacology 2008: 15, e344-e366.
- Kodituwakku PW. A neurodevelopmental framework for the development of interventions for children with fetal alcohol spectrum disorders. Alcohol 2010:44, 717-728.
- Kodituwakku PW, Kodituwakku EL. From research to practice: An integrative framework for the development of interventions for children with fetal alcohol spectrum disorders. Neuropsychology Review 2011:21, 204-223.
- Bertrand J. Interventions for children with fetal alcohol spectrum disorders (FASDs): overview of findings for five innovative research projects. Research in Developmental Disabilities 2009:30, 986-1006.
- Landgraf MN, Giese RM, Heinen M. Fetale Alkoholspektrumstörungen – Diagnose, neuropsychologische Testung und symptomorientierte Förderung. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2017:45 (2),104–117
- Wells, A. M., Chasnoff, I. J., Schmidt, C. A., Telford, E., & Schwartz, L. D. Neurocognitive habilitation therapy for children with fetal alcohol spectrum disorders: an adaptation of the Alert Program®. The American Journal Of Occupational Therapy: Official Publication Of The American Occupational Therapy Association 2012:66(1), 24-34.
- O’Connor, M. J., Frankel, F., Paley, B., Schonfeld, A. M., Carpenter, E., Laugeson, E. A., & Marquardt, R. A controlled social skills training for children with fetal alcohol spectrum disorders. J Consult Clin Psychol 2006:74(4), 639-648.
- O’Connor, M. J., Laugeson, E. A., Mogil, C., Lowe, E., Welch‐Torres, K., Keil, V., & Paley, B. Translation of an evidence‐based social skills intervention for children with prenatal alcohol exposure in a community mental health setting. Alcoholism: Clinical and Experimental Research 2012:36(1), 141-152.