Sehr geehrte, liebe Kolleginnen und Kollegen,

wir freuen uns, dass Sie Interesse an unserem Projekt

Deutsches FASD KOMPETENZZENTRUM Bayern

haben!

Im Folgenden haben wir für Sie zusammengestellt:

  1. einige allgemeine Informationen zu den Fetalen Alkoholspektrumstörungen
    (Fallbeispiel siehe Menüpunkt „Familien“)
  2. die FASD Diagnose-Kriterien gemäß der S3-Leitlinie
  3. Informationen zur Prognose
  4. Überlegungen zur Therapie und Förderung
  5. Links zu weiteren Informationen
  6. Auswahl an Literatur.


Wenn Sie Fragen haben, können Sie sich gerne an uns wenden:
fasd@med.uni-muenchen.de.

Ihr Team des Deutschen FASD KOMPETENZZENTRUM Bayern

Hintergrund – Informationen

Etwa ein Drittel aller Frauen in Deutschland trinkt Alkohol während der Schwangerschaft.

Kein Zeitpunkt und keine Menge an Alkohol sind in der Schwangerschaft erwiesenermaßen unschädlich für das werdende Kind.

Im Mutterleib kann die Exposition gegenüber Alkohol, einem der schädlichsten Umweltgifte, zu einer toxischen, biologisch irreversiblen Gehirnschädigung beim Kind führen.

Daraus können vielfältige und schwerwiegende Beeinträchtigungen in der körperlichen und geistigen Entwicklung des Kindes, im Verhalten und weiterführend in der selbstständigen Lebensbewältigung entstehen.

Diese Beeinträchtigungen werden als Fetale Alkoholspektrumstörungen – FASD (fetal alcohol spectrum disorders) – zusammengefasst. Zu den FASD zählen das Fetale Alkoholsyndrom (FAS), das partielle Fetale Alkoholsyndrom (pFAS) und die alkoholbedingte entwicklungsneurologische Störung (ARND-alcohol related neurodevelopmental disorder).

Mindestens 1% aller Kinder kommen mit einer FASD auf die Welt – damit ist die FASD die häufigste mit Geburt bestehende chronische Krankheit in Deutschland.

Sie kann durch Alkoholabstinenz in der Schwangerschaft vollständig vermieden werden.

Alkoholkonsum in der Schwangerschaft und dessen Folgen beim Kind sind dabei nicht das Problem einer einzelnen Frau, sondern eine gesellschaftliche Herausforderung.

Diagnose FASD

Die frühzeitige und korrekte Diagnosestellung FASD ist die Grundlage für das Krankheitskonzept und somit das Krankheitsverständnis sowie die Voraussetzung für die Planung einer für das Störungsbild adäquaten und individuell angepassten Therapie.

Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung und das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) initiierten 2010 das Leitlinien-Projekt zum FAS, das 2016 mit der Erstellung einer S3-Leitlinie für die Diagnose FASD abgeschlossen wurde – siehe auch http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/022-025.html.
Die Leitlinienentwicklung wurde der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin übertragen und inhaltlich der Gesellschaft für Neuropädiatrie zugewiesen. Leitlinienkoordination und Autorenschaft übernahmen Dr. med. Dipl.-Psych. Mirjam N. Landgraf und Prof. Dr. med. Florian Heinen vom LMU Klinikum München, Dr. von Haunersches Kinderspital mit seinem integrierten Sozialpädiatrischen Zentrum iSPZ Hauner (www.ispz-hauner.de).
Die Leitliniengruppe bestand aus RepräsentantInnen des Bundesministeriums für Gesundheit, der relevanten Fachgesellschaften und Berufsverbände, der Patientenvertretung FASD Deutschland e.V. und namhaften weiteren FASD-Experten.
Die Literatur der letzten 10 Jahre wurde evaluiert und hinsichtlich ihrer methodischen Qualität bewertet. Die daraus resultierenden evidenzbasierten Ergebnisse wurden in den multidisziplinären Konsensuskonferenzen hinsichtlich klinischer Relevanz, ethischen Hintergründen und Praktikabilität diskutiert, modifiziert und konsentiert. Die konsentierten diagnostischen Empfehlungen wurden daraufhin formell verabschiedet.

In der nachfolgenden Tabelle sind die bei den verschiedenen Fetalen Alkoholspektrumstörungen typischerweise auftretenden phänotypischen Auffälligkeiten und Symptome in der jeweiligen diagnostischen Säule als Orientierungshilfe zusammengefasst (SD-standard deviation-Standardabweichung). 
Eine Orientierungshilfe zur Abklärung von FASD bei Kindern und Jugendlichen finden Sie in Form einer interaktiven WebApp als Extra-Punkt unter dem Menü „Fachkräfte“.

Die exakten Kriterien der S3 Leitlinie zur Diagnose der FASD bei Kindern und Jugendlichen finden Sie im Text darunter [1-3].

Auffälligkeiten in Domäne: Fetales Alkoholsyndrom – FAS Partielles Fetales Alkoholsyndrom – pFAS Alkoholbedingte entwicklungs-neurologische Störung – ARND
Wachstum:

Geburts- oder Körpergewicht
oder
Geburts- oder Körperlänge
oder
Body Mass Index ≤ 10. Perzentile
mind. 1 Auffälligkeit
Gesicht:

1) kurze Lidspalten ≤ 3. Perzentile bzw. mind. 2 SD unter der Norm
2) verstrichenes Philtrum (Grad 4 oder 5 Lip-Philtrum Guide)
3) schmale Oberlippe (Grad 4 oder 5 Lip-Philtrum Guide)
alle 3 Auffälligkeiten mind. 2 von 3 Auffälligkeiten
Zentrales Nervensystem (ZNS):

funktionell und strukturell
globale Intelligenzminderung (mindestens 2 SD unter der Norm)
oder
signifikante kombinierte Entwicklungsverzögerung ≤ 2 Jahre

oder/und
signifikante Beeinträchtigung in mind. 3 Bereichen:
  • Sprache
  • Fein-/Graphomotorik
    oder
    grobmotorische Koordination
  • räumlich-visuelle Wahrnehmung oder räumlich-konstruktive Fähigkeiten
  • Lern- oder Merkfähigkeit
  • exekutive Funktionen
  • Rechenfertigkeiten
  • Aufmerksamkeit
  • soziale Fertigkeiten oder Verhalten
oder/und
Kopfumfang ≤ 10. Perzentile
signifikante Beeinträchtigung in mind. 3 Bereichen (alle folgenden Aufzählungspunkte sind gleichwertige Kriterien):
  • globale Intelligenzminderung (mindestens 2 SD unter der Norm) oder signifikante kombinierte Entwicklungs-verzögerung bei Kindern ≤ 2 Jahre
  • Epilepsie
  • Kopfumfang ≤ 10. Perzentile
Leistung mindestens 2 SD unter der Norm in:
  • Sprache
  • Fein-/Graphomotorik
    oder
    grobmotorische Koordination
  • räumlich-visuelle Wahrnehmung oder räumlich-konstruktive Fähigkeiten
  • Lern- oder Merkfähigkeit
  • exekutive Funktionen
  • Rechenfertigkeiten
  • Aufmerksamkeit
  • soziale Fertigkeiten oder Verhalten
signifikante Beeinträchtigung in mind. 3 Bereichen (alle folgenden Aufzählungspunkte sind gleichwertige Kriterien):
  • globale Intelligenzminderung (mindestens 2 SD unter der Norm) oder signifikante kombinierte Entwicklungs-verzögerung bei Kindern ≤ 2 Jahre
  • Epilepsie
  • Kopfumfang ≤ 10. Perzentile
Leistung mindestens 2 SD unter der Norm in:
  • Sprache
  • Fein-/Graphomotorik
    oder
    grobmotorische Koordination
  • räumlich-visuelle Wahrnehmung oder räumlich-konstruktive Fähigkeiten
  • Lern- oder Merkfähigkeit
  • exekutive Funktionen
  • Rechenfertigkeiten
  • Aufmerksamkeit
  • soziale Fertigkeiten oder Verhalten
Intrauterine Alkoholexposition nicht bestätigt oder bestätigt wahrscheinlich oder bestätigt bestätigt
Auffälligkeiten in Domäne: Fetales Alkoholsyndrom – FAS
Wachstum:

Geburts- oder Körpergewicht
oder
Geburts- oder Körperlänge
oder
Body Mass Index ≤ 10. Perzentile
mind. 1 Auffälligkeit
Gesicht:

1) kurze Lidspalten ≤ 3. Perzentile bzw. mind. 2 SD unter der Norm
2) verstrichenes Philtrum (Grad 4 oder 5 Lip-Philtrum Guide)
3) schmale Oberlippe (Grad 4 oder 5 Lip-Philtrum Guide)
alle 3 Auffälligkeiten
Zentrales Nervensystem (ZNS):

funktionell und strukturell
globale Intelligenzminderung (mindestens 2 SD unter der Norm)
oder
signifikante kombinierte Entwicklungsverzögerung ≤ 2 Jahre

oder/und
signifikante Beeinträchtigung in mind. 3 Bereichen:
  • Sprache
  • Fein-/Graphomotorik
    oder
    grobmotorische Koordination
  • räumlich-visuelle Wahrnehmung oder räumlich-konstruktive Fähigkeiten
  • Lern- oder Merkfähigkeit
  • exekutive Funktionen
  • Rechenfertigkeiten
  • Aufmerksamkeit
  • soziale Fertigkeiten oder Verhalten
oder/und
Kopfumfang ≤ 10. Perzentile
Intrauterine Alkoholexposition nicht bestätigt oder bestätigt

Auffälligkeiten in Domäne: Partielles Fetales Alkoholsyndrom – pFAS
Wachstum:

Geburts- oder Körpergewicht
oder
Geburts- oder Körperlänge
oder
Body Mass Index ≤ 10. Perzentile
Gesicht:

1) kurze Lidspalten ≤ 3. Perzentile bzw. mind. 2 SD unter der Norm
2) verstrichenes Philtrum (Grad 4 oder 5 Lip-Philtrum Guide)
3) schmale Oberlippe (Grad 4 oder 5 Lip-Philtrum Guide)
mind. 2 von 3 Auffälligkeiten
Zentrales Nervensystem (ZNS):

funktionell und strukturell
signifikante Beeinträchtigung in mind. 3 Bereichen (alle folgenden Aufzählungspunkte sind gleichwertige Kriterien):
  • globale Intelligenzminderung (mindestens 2 SD unter der Norm) oder signifikante kombinierte Entwicklungs-verzögerung bei Kindern ≤ 2 Jahre
  • Epilepsie
  • Kopfumfang ≤ 10. Perzentile
Leistung mindestens 2 SD unter der Norm in:
  • Sprache
  • Fein-/Graphomotorik
    oder
    grobmotorische Koordination
  • räumlich-visuelle Wahrnehmung oder räumlich-konstruktive Fähigkeiten
  • Lern- oder Merkfähigkeit
  • exekutive Funktionen
  • Rechenfertigkeiten
  • Aufmerksamkeit
  • soziale Fertigkeiten oder Verhalten
Intrauterine Alkoholexposition wahrscheinlich oder bestätigt

Auffälligkeiten in Domäne: Alkoholbedingte entwicklungs-neurologische Störung – ARND
Wachstum:

Geburts- oder Körpergewicht
oder
Geburts- oder Körperlänge
oder
Body Mass Index ≤ 10. Perzentile
Gesicht:

1) kurze Lidspalten ≤ 3. Perzentile bzw. mind. 2 SD unter der Norm
2) verstrichenes Philtrum (Grad 4 oder 5 Lip-Philtrum Guide)
3) schmale Oberlippe (Grad 4 oder 5 Lip-Philtrum Guide)
Zentrales Nervensystem (ZNS):

funktionell und strukturell
signifikante Beeinträchtigung in mind. 3 Bereichen (alle folgenden Aufzählungspunkte sind gleichwertige Kriterien):
  • globale Intelligenzminderung (mindestens 2 SD unter der Norm) oder signifikante kombinierte Entwicklungs-verzögerung bei Kindern ≤ 2 Jahre
  • Epilepsie
  • Kopfumfang ≤ 10. Perzentile
Leistung mindestens 2 SD unter der Norm in:
  • Sprache
  • Fein-/Graphomotorik
    oder
    grobmotorische Koordination
  • räumlich-visuelle Wahrnehmung oder räumlich-konstruktive Fähigkeiten
  • Lern- oder Merkfähigkeit
  • exekutive Funktionen
  • Rechenfertigkeiten
  • Aufmerksamkeit
  • soziale Fertigkeiten oder Verhalten
Intrauterine Alkoholexposition bestätigt

Diagnose des Fetalen Alkoholsyndroms – FAS

Zur Diagnose eines FAS sollten alle Kriterien 1. bis 4. (die 4 diagnostischen Säulen des FAS) zutreffen:
1. Wachstumsauffälligkeiten,
2. faciale Auffälligkeiten,
3. ZNS-Auffälligkeiten
4. intrauterine Alkoholexposition.


Zu 1.
Zur Erfüllung des Kriteriums Wachstumsauffälligkeiten soll mindestens 1 der folgenden Auffälligkeiten zutreffen:

  1. Geburts- oder Körpergewicht ≤ 10. Perzentile
  2. Geburts- oder Körperlänge ≤ 10. Perzentile
  3. Body Mass Index ≤ 10. Perzentile.

Die gemessenen Körpermaße sollten an das Gestationsalter, Alter und Geschlecht adaptiert und auf Perzentilenkurven eingetragen werden.
Auch wenn die Kinder ihr Wachstum, z.B. in der Pubertät, aufholen, gelten in jüngerem Alter dokumentierte Verringerungen der Körpermaße als erfülltes Kriterium für FAS. Ebenso zählen ein Untergewicht und/oder ein Kleinwuchs in späterem Alter als erfülltes Kriterium auch wenn z.B. bei Geburt oder im Säuglingsalter durchschnittlichen Perzentilen dokumentiert wurden.
Es sollte ausgeschlossen werden, dass die Wachstumsstörung allein durch andere Ursachen wie familiärer Kleinwuchs oder konstitutionelle Entwicklungsverzögerung, pränatale Mangelzustände, Skelettdysplasien, hormonelle Störungen, genetische Syndrome, chronische Erkrankungen, Malabsorption, Mangelernährung oder Vernachlässigung erklärt werden kann.


Zu 2.
Zur Erfüllung des Kriteriums “Faciale Auffälligkeiten”
sollen alle 3 facialen Anomalien vorhanden sein:

  1. Kurze Lidspalten (mind. 2 Standardabweichungen unter der Norm = ≤ 3. Perzentile)
  2. Verstrichenes Philtrum (Rang 4 oder 5 auf dem Lip-Philtrum-Guide. Astley et al. 2004)
  3. Schmale Oberlippe (Rang 4 oder 5 auf dem Lip-Philtrum-Guide)

Die Lidspaltenlänge kann mittels eines durchsichtigen Lineals direkt am Patienten oder auf einer Photographie des Patienten mit Referenzmaßstab, z.B. 1cm großer, auf die Stirn geklebter Punkt, gemessen und in die verfügbaren Perzentilenkurven eingetragen werden (Abb. 1).

Abbildung 1:
Messung der Lidspaltenlänge von inneren (en) zum äußeren Augenwinkel (ex)
(© 2020 PD Dr. med. Dipl.-Psych. Mirjam N. Landgraf, Ludwig-Maximilians-Universität München)

Die Oberlippe und das Philtrum können anhand des Lip-Philtrum-Guide von Astley et al. quantitativ eingeordnet werden (Beispiele siehe Abbildung 2). Dabei gelten Messungen mit vier und mit fünf von fünf Punkten auf der Skala als pathologisch (https://depts.washington.edu/fasdpn/htmls/lip-philtrum-guides.htm).



Abbildung 2:
Verstrichenes Philtrum (links und Mitte Grad 4) und schmale Oberlippe (links Grad 4, Mitte Grad 5 Lip-Philtrum Guide von Astley) – rechts gute ausgebildetes Philtrum (Grad 2) und normal dicke Oberlippe (Grad 2 Lip-Philtrum Guide von Astley)
(© 2020 PD Dr. med. Dipl.-Psych. Mirjam N. Landgraf, Ludwig-Maximilians-Universität München)


Zu 3.
Zur Erfüllung des Kriteriums “Funktionelle ZNS-Auffälligkeiten“ sollte mindestens 1 der folgenden Auffälligkeiten zutreffen:
3.1. Funktionelle ZNS-Auffälligkeiten
3.2. Strukturelle ZNS-Auffälligkeiten

3.1.
Zur Erfüllung des Kriteriums „Funktionelle ZNS-Auffälligkeiten“
sollte mindestens 1 der folgenden Auffälligkeiten zutreffen,
die nicht adäquat für das Alter ist
und nicht allein durch den familiären Hintergrund oder das soziale Umfeld erklärt werden kann:

  1. Globale Intelligenzminderung mindestens 2 Standardabweichungen unterhalb der Norm
    oder
    signifikante kombinierte Entwicklungsverzögerung bei Kindern unter 2 Jahren
  1. Leistung mindestens 2 Standardabweichungen unterhalb der Norm in mindestens 3 der folgenden Bereiche
    oder
    in mindestens 2 der folgenden Bereiche in Kombination mit Epilepsie:
    • Sprache
    • Feinmotorik
    • Räumlich-visuelle Wahrnehmung oder räumlich-konstruktive Fähigkeiten
    • Lern- oder Merkfähigkeit
    • Exekutive Funktionen
    • Rechenfertigkeiten
    • Aufmerksamkeit
    • Soziale Fertigkeiten oder Verhalten

3.2.
Zur Erfüllung des Kriteriums „Strukturelle ZNS-Auffälligkeiten“
sollte folgende Auffälligkeit,
adaptiert an Gestationsalter, Alter, Geschlecht,
dokumentiert zu einem beliebigen Zeitpunkt,
zutreffen:
Mikrocephalie (Kopfumfang ≤ 10. Perzentile)


Zu 4.
Wenn Auffälligkeiten in den drei übrigen diagnostischen Säulen bestehen,
soll die Diagnose eines Fetalen Alkoholsyndroms auch ohne Bestätigung eines mütterlichen Alkoholkonsums während der Schwangerschaft gestellt werden

Diagnose des partiellen Fetalen Alkoholsyndroms – pFAS

Zur Diagnose eines pFAS sollen alle Kriterien 1. bis 3. (die 3 diagnostischen Säulen des pFAS) zutreffen:
1. faciale Auffälligkeiten,
2. ZNS-Auffälligkeiten
3. intrauterine Alkoholexposition.

Die Wachstum-Säule entfällt für die Diagnose des pFAS.


Zu 1.
Für die Diagnose des pFAS sollen zwei der drei, oben beschriebenen, facialen Auffälligkeiten, dokumentiert zu einem beliebigen Zeitpunkt vorhanden sein.


Zu 2.
Zur Erfüllung des Kriteriums “ZNS-Auffälligkeiten”
sollen mind. 3 der folgenden Auffälligkeiten zutreffen,
die nicht adäquat für das Alter sind
und nicht allein durch den familiären Hintergrund oder das soziale Umfeld erklärt werden können:

  • Globale Intelligenzminderung (mind. 2 SD unter der Norm) oder signifikante kombinierte Entwicklungsverzögerung bei Kindern ≤ 2 J.
  • Epilepsie
  • Mikrocephalie ≤ 10. Perzentile

Leistung mind. 2 SD unter der Norm in den Bereichen:

  • Sprache
  • Fein-/Graphomotorik oder grobmotorische Koordination
  • Räumlich-visuelle Wahrnehmung oder räumlich-konstruktive Fähigkeiten
  • Lern- oder Merkfähigkeit
  • Exekutive Funktionen
  • Rechenfertigkeiten
  • Aufmerksamkeit
  • Soziale Fertigkeiten oder Verhalten

Im Gegensatz zum FAS reicht beim pFAS das alleinige Vorliegen einer Mikrocephalie oder eine Intelligenzminderung nicht für die Diagnose aus.
Alle mit Aufzählungspunkten versehenen Bereiche gelten als gleichwertig für die Diagnosestellung.


Zu 3.
Die intrauterine Alkoholexposition sollte für die Diagnose eines pFAS bestätigt oder wahrscheinlich sein, um Über- bzw. Fehldiagnosen zu vermeiden.

Diagnose der alkoholbedingten entwicklungsneurologischen Störung – ARND – alcohol related neurodevelopmental disorders

Zur Diagnose einer ARND sollen die Kriterien 1. und 2. (die 2 diagnostischen Säulen der ARND) zutreffen:
1. ZNS-Auffälligkeiten
2. intrauterine Alkoholexposition

Die Säulen der Wachstums- und facialen Auffälligkeiten entfällt.


Zu 1.
Zur Erfüllung des Kriteriums „ZNS-Auffälligkeiten“
sollen mind. 3 der folgenden Auffälligkeiten zutreffen,
die nicht adäquat für das Alter sind
und nicht allein durch familiären Hintergrund oder das soziale Umfeld erklärt werden können:

  • Globale Intelligenzminderung (mind. 2 SD unter der Norm) oder signifikante kombinierte Entwicklungsverzögerung bei Kindern ≤ 2 J.
  • Epilepsie
  • Mikrocephalie ≤ 10. Perzentile

Leistung mind. 2 SD unter der Norm in den Bereichen:

  • Sprache
  • Fein-/Graphomotorik oder grobmotorische Koordination
  • Räumlich-visuelle Wahrnehmung oder räumlich-konstruktive Fähigkeiten
  • Lern- oder Merkfähigkeit
  • Exekutive Funktionen
  • Rechenfertigkeiten
  • Aufmerksamkeit
  • Soziale Fertigkeiten oder Verhalten


Zu 2.
Wenn ZNS-Auffälligkeiten vorhanden sind,
soll die Diagnose einer ARND bei bestätigtem mütterlichem Alkoholkonsum während der Schwangerschaft gestellt werden.

Diagnose der alkoholbedingten angeborenen Fehlbildungen – ARBD – alcohol related birth defects

Alcohol related birth defects (ARBD) soll in Deutschland,
wegen der fehlenden Spezifität der Malformationen und
der fehlenden Evidenz für ARBD als eindeutige Krankheits-Entität,
nicht als Diagnose verwendet werden.

Prognose FASD

Um Kinder und Jugendliche mit FASD mit ihren Einschränkungen zu verstehen und dementsprechend eine adäquate Therapie zu gestalten, benötigt man Wissen über die Prognose von Menschen mit FASD.

Die FASD entspricht einer intrauterinen irreversiblen toxischen Gehirnschädigung. Während Auffälligkeiten im Wachstum und im Gesicht im Entwicklungsverlauf über die Jahre weniger prominent werden können [4], persistieren Defizite in den Gehirnfunktionen ins Erwachsenenalter. Insbesondere die Beeinträchtigungen in den Bereichen Kognition, Exekutivfunktionen, Aufmerksamkeit und Verhalten und dessen Regulation machen nicht nur das Alltagsleben des Kindes und Jugendlichen mit FASD extrem herausfordernd, sondern bewirken oft auch, dass eine selbstständige Lebensführung von Erwachsenen mit FASD ohne Unterstützung unmöglich ist. Dabei gibt es hinsichtlich dieser Prognose keine eindeutigen Unterschiede zwischen FAS, pFAS und ARND, was sicherlich auch an der erschwerten und oft verspäteten Diagnose des pFAS und v.a. der ARND liegt.

Im schulisch-beruflichen Bereich ergab eine deutsche Studie von Spohr & Steinhausen [4], dass 49% der Betroffenen mit FASD eine Förderschule, 38% eine Regel-Grundschule und nur 13% eine weiterführende Schule besucht haben. Lediglich 13% der Erwachsenen mit FASD hatten einmalig einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt. Nur ca. 1/3 der erwachsenen Patienten mit FASD konnten ein selbständiges Leben führen, 2/3 lebten betreut, in Institutionen oder auch im Erwachsenenalter noch mit den Eltern. Aus den funktionellen ZNS-Defiziten resultiert somit im Jugend- und Erwachsenenalter häufig eine gravierende Einschränkung bezogen auf ein selbständiges Leben und Arbeiten sowie auf ein Zurechtkommen in der Gesellschaft.

Eine amerikanische Studie von Streissguth et al [5] ergab, dass 61% der Erwachsenen mit FASD eine abgebrochene Schullaufbahn vorwiesen. 67% der Betroffenen mit FASD berichteten über erlebte körperliche oder sexuelle Misshandlung und 35% hatten selbst ein Alkohol- oder Drogenproblem. 60% der Erwachsenen mit FASD gerieten in Gesetzeskonflikte und 50% waren bereits stationär in einer Klinik oder im Gefängnis.

Popova et al evaluierten die zusätzlichen ICD-10-Diagnosen, die Menschen mit FASD erhielten [6]. Dabei zeigte sich, dass 91% der Menschen mit FASD eine Verhaltensstörung, 55% eine Suchtstörung, 40% eine Psychose, 37% eine Depression und 27% eine Angststörung hatten. 55% der an FASD erkrankten Menschen zeigten suizidales Verhalten. Demnach haben Menschen mit FASD ein deutlich erhöhtes Risiko für psychiatrische Erkrankungen, in einigen Fällen verbunden mit sozialer Isolation und Verwahrlosung.

Wissenschaftlich belegte protektive Faktoren, die ein positives Langzeit-Outcome bei Menschen mit FASD fördern, sind:

  1. eine frühe Diagnose,
  2. ein stabiles förderndes Umfeld und
  3. eine gewaltfreie Umwelt [5, 7].

Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit FASD

Biologisch definierte Gehirnschädigung

Menschen mit FASD haben eine alkoholtoxische Gehirnschädigung, die biologisch nicht reparabel ist. Das bedeutet, dass es keine kausale Therapie für FASD gibt. Funktionelle Therapien und Förderungen, das heißt Maßnahmen, die zwar nicht die Ursache der Krankheit beseitigen, aber gewisse Verbesserungen von Fertigkeiten bzw. Reduktionen von Defiziten bewirken, sind bei Kindern und Jugendlichen mit FASD möglich und medizinisch-ethisch erforderlich.

Diversität der Symptomatik von FASD interindividuell

Hinsichtlich der Förderung ist wichtig zu realisieren, dass die an FASD erkrankten Kinder und Jugendlichen komplexe Defizite in verschiedenen Funktionen des zentralen Nervensystems haben und kein einheitliches neuropsychologisches Profil aufweisen [8]. Eine einheitliche, spezifische Therapie, die diagnosebezogen für alle Patienten des gesamten Spektrums alkoholinduzierter Störungen geeignet wäre, gibt es also nicht. Die Therapie sollte wegen der Symptomvielfalt des FASD daher nicht diagnose-, sondern symptomorientiert ausgerichtet sein sowie individuell geplant und dem jeweiligen Verlauf angepasst werden.

Diversität der Symptomatik von FASD intraindividuell

Die Auffälligkeiten des Kindes mit FASD, die von den Eltern und sonstigen Bezugspersonen beobachtet werden und gemeinsam mit dem Kind bewältigt werden müssen, ändern sich im Entwicklungsverlauf. So zeigen zum Beispiel Säuglinge mit FASD häufig Regulations- und Fütterstörungen; Kleinkinder fallen oft durch unaufmerksames Spiel und geringe Frustrationstoleranz auf; Schulkinder können Schwierigkeiten haben, Freunde zu finden oder zu halten oder sich in eine soziale Gruppe zu integrieren, außerdem haben sie häufig Lern- und Schulprobleme; Jugendliche mit FASD zeigen oft deutliche Aufmerksamkeits-, Impulskontroll-, sonstige Verhaltens- und Schlafstörungen und können in die Delinquenz abrutschen, eine psychiatrische Erkrankung inkl. Suchtstörung entwickeln oder Opfer von Misshandlung werden.

Daher wird bei der Unterstützung einer Familie mit Kindern und/oder Jugendlichen mit FASD aus unserer Erfahrung ein Case Management mit multiprofessionellem Team benötigt, das folgende Aufgaben hat:

  1. patientenzentrierte Planung
  2. dynamische Gestaltung
  3. kontinuierliche Beratung der Eltern und anderer Bezugspersonen
  4. interdisziplinäre Kommunikation
  5. Bestimmung von und Zusammenarbeit mit relevanten Netzwerkpartnern
  6. Kontinuierliche Anpassung der Therapie im Verlauf

Gedächtnisprobleme

Die Therapie von Kindern mit FASD gestaltet sich auch deswegen schwierig, weil viele betroffene Kinder deutlich mehr Wiederholungen, teils über verschiedene Wahrnehmungskanäle, benötigen als gesunde Kinder, um sich Gelerntes längerfristig zu merken. Auch verlieren Kinder mit FASD oft von einem Tag auf den anderen Gelerntes wieder aus dem Gedächtnis bzw. können es nicht mehr abrufen. Dies hat die Konsequenz, dass Lerninhalte, die über Wochen beherrscht wurden, verloren sind und wieder von Null an erarbeitet werden müssen. Dabei sind unter Lerninhalten sowohl schulische Inhalte als auch intra- und extrafamiliäre Verhaltensregeln zu verstehen – der Impact der Merkfähigkeits- und Gedächtnisstörung ist also immens.

Exekutivfunktionsstörungen

Die Störung der Exekutivfunktionen bei Kindern und Jugendlichen mit FASD beinhaltet z.B. Schwierigkeiten, 1) Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zu erkennen, 2) mehrsequentielle Handlungen zu planen und mit Korrekturmöglichkeit auszuführen, 3) aus Fehlern zu lernen und 4) Gelerntes auf andere Situationen, Personen oder ähnliche Aufgaben zu transferieren. Auch von einer Exekutivfunktionsstörung sind viele Bereiche des Lernens, Alltags und häuslichen Lebens betroffen. Wichtig dabei ist auch, dass das aus der Exekutivfunktionsstörung resultierende, inadäquate Verhalten von Kindern und Jugendlichen mit FASD durch Bezugspersonen oft als bewusste (persönliche) Provokation oder Aggression fehlinterpretiert wird. Die aus der Fehlinterpretation folgenden negativen Haltungen und Strafen der Bezugspersonen sind für die Kinder und Jugendlichen mit FASD wiederum nicht verständlich und damit extrem frustrierend oder beängstigend.

Ein interdisziplinäres Setting mit einem multiprofessionellen Team (wie z.B. in einem Sozialpädiatrischen Zentrum – SPZ) ist für die frühzeitige und adäquate Diagnosestellung und darauffolgende Initiierung, Koordination und im Verlauf Anpassung der Therapie und Förderung sowie langfristige Begleitung und Unterstützung der Familien für die meisten Kinder und Jugendlichen mit FASD sinnvoll und notwendig.

Weitere Informationen – Links

iSPZ Hauner – TESS-Ambulanz (inkl. Anmeldung zur FASD Diagnostik):

S3-Leitlinie zur Diagnose der FASD bei Kindern und Jugendlichen:

Pocketguide FASD:

Pocketguide FASD in Englisch, Spanisch, Französisch, Portugiesisch:

Lip-Philtrum-Guide von Astley et al. Zur Bewertung der Oberlippe und des Philtrums:

Drogenbeauftragte der Bundesregierung (Projektunterstützung):

Bayerisches Staatsministerium für Gesundheit und Pflege (Projektunterstützung):

Robert-Vogel-Stiftung (Projektunterstützung):

Patientenvertretung FASD Deutschland e.V.:

Literatur (Auswahl)

  1. Landgraf MN, Nothacker M, Heinen F. Diagnosis of fetal alcohol syndrome (FAS): German guideline version 2013. Eur J Paediatr Neurol. 2013;17:437-46.
  2. Landgraf MN, Heinen F. Fetale Alkoholspektrumstörungen – FASD Diagnostik in der Kinder- und Jugendmedizin. Praxisguide der S3 Leitlinie. Monatsschrift Kinderheilkunde 2016. ePub ahead of print Oct 2016: http://link.springer.com/article/10.1007/s00112-016-0191-y.
  3. Landgraf MN, Heinen F. Fetale Alkoholspektrumstörung, FASD-Diagnostik, S3 Leitlinie Registernr. 022-025, https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/022-025.html
  4. Spohr HL, Steinhausen HC. Fetal alcohol spectrum disorders and their persisting sequelae in adult life. Deutsches Aerzteblatt International 2008:105, 693-8.
  5. Streissguth AP et al. Risk Factors for Adverse Life Outcomes in Fetal Alcohol Syndrome and Fetal Alcohol Effects. Journal of Developmental and Behavioral Pediatrics 2004:25, 228–238.
  6. Popova S, Lange S, Shield K, Mihic A, Chudley AE, Mukherjee RAS, Bekmuradov D, Rehm J. Comorbidity of fetal alcohol spectrum disorder: a systematic review and meta-analysis. Lancet. 2016 Mar 5;387(10022):978-987.
  7. Alex K, Feldmann R. Children and adolescents with fetal alcohol syndrome (FAS): better social and emotional integration after early diagnosis. Klinische Pädiatrie 2012: 224, 66-71.
  8. Goh YI, Chudley AE, Clarren SK, et al. Development of Canadian screening tools for fetal alcohol spectrum disorder. The Canadian Journal of Clinical Pharmacology 2008: 15, e344-e366.
  9. Kodituwakku PW. A neurodevelopmental framework for the development of interventions for children with fetal alcohol spectrum disorders. Alcohol 2010:44, 717-728.
  10. Kodituwakku PW, Kodituwakku EL. From research to practice: An integrative framework for the development of interventions for children with fetal alcohol spectrum disorders. Neuropsychology Review 2011:21, 204-223.
  11. Bertrand J. Interventions for children with fetal alcohol spectrum disorders (FASDs): overview of findings for five innovative research projects. Research in Developmental Disabilities 2009:30, 986-1006.
  12. Landgraf MN, Giese RM, Heinen M. Fetale Alkoholspektrumstörungen – Diagnose, neuropsychologische Testung und symptomorientierte Förderung. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2017:45 (2),104–117
  13. Wells, A. M., Chasnoff, I. J., Schmidt, C. A., Telford, E., & Schwartz, L. D. Neurocognitive habilitation therapy for children with fetal alcohol spectrum disorders: an adaptation of the Alert Program®. The American Journal Of Occupational Therapy: Official Publication Of The American Occupational Therapy Association 2012:66(1), 24-34.
  14. O’Connor, M. J., Frankel, F., Paley, B., Schonfeld, A. M., Carpenter, E., Laugeson, E. A., & Marquardt, R. A controlled social skills training for children with fetal alcohol spectrum disorders. J Consult Clin Psychol 2006:74(4), 639-648.
  15. O’Connor, M. J., Laugeson, E. A., Mogil, C., Lowe, E., Welch‐Torres, K., Keil, V., & Paley, B. Translation of an evidence‐based social skills intervention for children with prenatal alcohol exposure in a community mental health setting. Alcoholism: Clinical and Experimental Research 2012:36(1), 141-152.
  16. Landgraf MN, Albers L, Rahmsdorf B, Vill K, Gerstl L, Lippert M, Heinen F. Fetal alcohol spectrum disorders (FASD) – What we know and what we should know – The knowledge of German health professionals and parents. Eur J Paediatr Neurol. 2018 May;22(3):507-515