Sehr geehrte, liebe Kolleginnen und Kollegen,
wir freuen uns, dass Sie Interesse an unserem Projekt
Deutsches FASD KOMPETENZZENTRUM Bayern
haben!
Im Folgenden haben wir für Sie zusammengefasst:
- Prävention
- Pathophysiologie der FASD
- Diagnose FASD
- Prognose FASD
- Therapie & Versorgung
- Netzwerkpartner
- Sozialrechtliches
- Links
- Fortbildungen
Wenn Sie Fragen haben, können Sie sich gerne an uns wenden: fasd@med.uni-muenchen.de.
Ihr Team des Deutschen FASD KOMPETENZZENTRUM Bayern
Prävention
Wissensquiz
Hier können Sie Ihr Wissen über Alkohol in der Schwangerschaft testen.
Formen der Prävention
Die oben beschriebenen Bereiche, die bei Vorliegen einer Fetalen Alkoholspektrumstörung Beeinträchtigungen aufweisen können, z.B. die exekutiven Funktionen, die visuell-räumlichen Fertigkeiten, die emotionale Regulation und die Aufmerksamkeit, sind für unsere Funktionsfähigkeit im Alltag, für die Aufgabenbewältigung, das soziale Miteinander, das Aufbauen und Erhalten von zwischenmenschlichen Beziehungen und die Ausübung einer Berufstätigkeit von großer Wichtigkeit. An einer Fetalen Alkoholspektrumstörung erkrankte Menschen leiden daher oftmals unter schwerwiegenden und persistierenden Beeinträchtigungen in vielen Lebensbereichen, deren Ursache die alkoholtoxische Schädigung während der Organogenese ist.
Alkohol ist in unserer Gesellschaft die am weitesten verbreitete Droge. Legal und sozial anerkannt gehört für viele Menschen in zahlreichen Alltagssituation der Alkoholkonsum zum Erleben von Geselligkeit, Entspannung oder Feierlichkeiten schlichtweg dazu. Die Ergebnisse der Studie „Gesundheit in Deutschland aktuell“ aus dem Jahr 2012 („GEDA-Studie“) zeigen, dass insgesamt rund 30% der schwangeren Frauen Alkohol zu sich nehmen [1], wodurch sich die hohe Prävalenz der Fetalen Alkoholspektrumstörung in Deutschland und die Tatsache, dass es sich um die häufigste bei Geburt bestehende chronische Erkrankung überhaupt handelt, begründet.
Präventionsmaßnahmen, die eine Abstinenz der werdenden Mutter über die gesamte Zeit der Schwangerschaft zum Ziel haben, sind daher essenziell und können in ihrer Bedeutung nicht überschätzt werden, da die Erkrankung nur durch den konsequenten Alkoholverzicht während der Schwangerschaft vermieden werden kann. Grundsätzlich unterscheidet man verschiedene Formen der Prävention.
Universelle Prävention
Die universelle Prävention richtet sich an eine sehr breite und große Zielgruppe in der Bevölkerung. Durch sie soll vor allem durch anschauliche und effektive Aufklärung über die Erkrankung und deren Entstehung informiert werden. Im Falle der Fetalen Alkoholspektrumstörung soll dadurch eine möglichst frühzeitige Sensibilisierung von SchülerInnen, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und deren Umfeld zum Umgang mit Alkohol während der Schwangerschaft erreicht werden. Möglichkeiten der Umsetzung sind beispielsweise pädagogische Projekte, die im schulischen Rahmen Jugendlichen und jungen Erwachsenen die Thematik anschaulich vermitteln, aber auch öffentliche, für alle Personengruppen zugängliche Ausstellungen oder Hinweise auf den Spirituosen selbst, die über die Risiken des Konsums aufklären [2]. Die universelle Prävention der Fetalen Alkoholspektrumstörung hat damit das Ziel, ein Auftreten der Erkrankung zu verhindern, indem eine sehr breite Zielgruppe angesprochen wird, noch bevor eine konkrete individuelle potentielle Risikosituation entstanden ist.
Im Folgenden haben wir Präventionsprojekte zu Alkohol in der Schwangerschaft und FASD für Sie in einer Graphik zusammengestellt und deren Ziele, Inhalte, Ergebnisse und Finanzierung – soweit aus unserer Internet-Recherche eruierbar – aufgelistet. Bei Fragen oder für weitere Informationen wenden Sie sich bitte direkt an die jeweiligen AnsprechpartnerInnen der Projekte.
Präventionsprojekte zu Alkohol in der Schwangerschaft und FASD – Übersicht

Präventionsangebot: Ausstellung ZERO!
Leitung/Ansprechpartner: FASD-Netzwerk- Nordbayern e. V., Gisela Bolbecher, Atzelsberger Str. 10, 91094 Bräuningshof, info@fasd-netz.de
Idee/Konzept/Ziel: Aufklärung der Bevölkerung über die Auswirkungen von Alkohol in der Schwangerschaft
Realisierung: FASD-Netzwerk Nordbayern e.V. in Kooperation mit der Jugendkunstschule der Stadt Erlangen
Zielpopulation: Schulen bzw. SchülerInnen ab der 7. Jahrgangsstufe, Jugendzentren, öffentliche und kirchliche Einrichtungen, Unternehmen, Fortbildungsinstitutionen, Gesundheitszentren, Fachtagungen, Gesundheitsmessen, etc.
Zielregion: Deutschland
Entstehungsjahr/Dauer: 2015 bis heute, Prototyp 2014
Kurzbeschreibung: Erlebnisorientierte Ausstellung bestehend aus drei Elementen, die Informationen zu Schwangerschaftsverlauf, Alkohol in der Schwangerschaft und FASD liefern
Elemente: 1) Begehbare Gebärmutter im Kuppelzelt mit Touchscreen-Station, 2) Informationen/Illustrationen (Zeltaußenseite) und eine dazugehörige interaktive Station zur Lebenswelt einer werdenden Mutter sowie konsumverleitenden Situationen, 3) Video-Station, die Einblicke in das Leben von Menschen mit FASD gibt (Anm.: auf Wunsch bzw. Anfrage sind zusätzlich auch FASD-Referent*innen buchbar)
Projekt-Finanzierung: Bundesministerium für Gesundheit
Aufwand und Kosten für Interessierte: eigenständige Abholung der Ausstellung oder Beauftragung Dritter, 500,-€ bzw. ab 01.01.2021 600,-€ Leihgebühr
Ergebnisse/Evaluation: ?
Übertragbarkeit auf andere Zielpopulationen: Da die Ausstellung der Öffentlichkeitsarbeit dient, ist die Zielgruppe bereits sehr breit gefasst. Auch als selektiv-präventives Angebot einsetzbar.
Übertragbarkeit auf andere Regionen: Bisher wurde die Ausstellung in Deutschland und auch in Österreich genutzt. Aufgrund der Sprache wäre die gesamte D-A-CH-Region möglich.
Einteilung in primär-/sekundär-/tertiär: es handelt sich um ein primärpräventives Angebot, da das Ziel der Aufklärung und Information zur Vermeidung von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft verfolgt wird.
Quelle und weitere Infos: https://wenn-schwanger-dann-zero.de/
Präventionsangebot: Kampagne „Schwanger? – Null Promille!“
Leitung/Ansprechpartner: Regierungsdirektor Martin Heyn, Dr. med. Martina Enke, Bayerisches Zentrum für Prävention und Gesundheitsförderung (ZPG) am Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Pfarrstraße 3, 80538 München, Tel.: 09131/680845-10, E-Mail: zpg@lgl.bayern.de
Idee/Konzept/Ziel: Kampagne, die sich an die breite Öffentlichkeit und insbesondere an werdende Mütter und Väter sowie deren Umfeld und an Multiplikator*innen richtet, um dem Konsum von Alkohol in der Schwangerschaft vorzubeugen
Realisierung: Bayerisches Zentrum für Prävention und Gesundheitsförderung (ZPG) am Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit
Zielpopulation: Schwangere, werdende Eltern und deren Umfeld, Öffentlichkeit sowie Fachleute wie Heb-ammen, Schwangerenberatungsstellen, Arztpraxen, Geburtskliniken, Apotheken, Sucht-beratungsstellen; migrationsspezifische Einrichtungen, Projekte wie „Mit Migranten für Migranten (MiMi) – Interkulturelle Gesundheit in Bayern“ und „ELTERNTALK“ und dadurch fremdsprachige Communities.
Zielregion: Bayern
Entstehungsjahr/Dauer: 2012 bis heute
Kurzbeschreibung: Die (bayerische) Kampagne wirbt mit verschiedenen Elementen für den Alkoholverzicht in der Schwangerschaft und bietet Online-Beratung auf ihrer Website
Elemente: ausführliche Website mit Informationen, Blogs, Quiz und Spielen, Material zum Bestellen (Poster, Flyer, Give-aways: Schlüsselanhänger, Mutterpasshüllen, Gutscheinhefte, Kugelschreiber). Die Seite ist vernetzt mit Beratungsmöglichkeiten wie dem Verzeichnis der Schwangerenberatungsstellen und Einrichtungen der Suchthilfe, die Kampagne ist in „Leichter Sprache“ zugänglich gemacht, die Webseite wird von Kampagnenauftritten in sozialen Netzwerken begleitet. Mit einem sog. Medienturm kann bei örtlichen Aktionen auf die Kampagne verwiesen werden.
Projekt-Finanzierung: Bayerisches Staatsministerium für Gesundheit und Pflege mit 200.000 Euro
Aufwand und Kosten für Interessierte: Online-Bestellung, kostenlos
Ergebnisse/Evaluation:Die kontinuierliche Dokumentation der Zugriffsdaten zur Kampagne belegt eine sehr gute Nutzung. Die Zugriffsdaten werden periodisch (von der betreuenden Agentur) erfasst. Empfehlungen zur Verbesserung der Website und Nutzung der sozialen Netzwerke – fließen in Erneuerungen des Designs etc. ein. Seit 2017 sind im dritten Jahr steigende Zugriffsdaten zu verzeichnen, so wurde die Anzahl der Nutzer*innen des Webangebotes dabei um über 50 % im Vergleich zu den Vorjahren gesteigert. Die Zugriffe auf die Webseite steigerten sich von 28.224 im Jahr 2018 auf 41.915 im Jahr 2019; im genannten Zeitraum steigerten sich die Seitenaufrufe von 48.711 auf 54.632 und die Nutzer*innen verzeichneten einen Anstieg von 24.962 auf 38.277.
Übertragbarkeit auf andere Zielpopulationen: universeller Präventionsansatz
Übertragbarkeit auf andere Regionen: Die Website wurde zu Teilen in sieben weitere Sprachen, darunter Englisch, Französisch, Spanisch, Türkisch, Serbisch, Russisch und Arabisch übersetzt.
Quelle und weitere Infos:
https://www.schwanger-null-promille.de
https://www.lgl.bayern.de/gesundheit/praevention/kindergesundheit/schwanger_null_promille.htm
Präventionsangebot: Kampagne „Alkohol? Kenn dein Limit“
Leitung/Ansprechpartner: Prof. Dr. med. Heidrun M. Thaiss, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Maarweg 149 – 161, 50825 Köln, Tel.: 0221/8992-0, E-Mail: zpg@lgl.bayern.de oder leitung@bzga.de
Idee/Konzept/Ziel: Größte deutsche Kampagne zur Alkoholprävention, um über die Risiken von Alkohol zu informieren und zu einem verantwortungsvollen Konsum zu motivieren
Realisierung: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
Die folgenden Angaben beziehen sich auf den Teilbereich der Kampagne zu Schwangerschaft und Stillzeit, nicht auf die sehr umfang- und facettenreiche Gesamt-Kampagne
Zielpopulation: Schwangere, werdende Eltern und deren Umfeld, Öffentlichkeit
Zielregion: Deutschland
Entstehungsjahr/Dauer: 2009
Kurzbeschreibung: Die Kampagne setzt auf einen Mix aus Plakatierung, Angeboten im Internet und persönliche Ansprache bei Veranstaltungen und Festivals
Elemente: Informationen auf der Website, für Fachkräfte: Manual „Praxismodule für die Beratung Schwangerer“, Broschüre „Andere Umstände – neue Verantwortung“ zur Ergänzung Ihrer Beratungsgespräche, Plakat „Andere Umstände – neue Verantwortung“
Projekt-Finanzierung: Verband der Privaten Krankenversicherung e.V. (PKV)
Aufwand und Kosten für Interessierte: keine
Ergebnisse/Evaluation:
Übertragbarkeit auf andere Zielpopulationen: universeller Präventionsansatz
Übertragbarkeit auf andere Regionen: deutschsprachiger Raum
Einteilung in primär-/sekundär-/tertiär: primärpräventiv
Quelle und weitere Infos:
https://www.kenn-dein-limit.de/alkohol/schwangerschaft-und-stillzeit/
https://www.kenn-dein-limit.de/alkohol/fachkraefte/beratung-von-schwangeren/
Präventionsangebot: FASD-Puppe FASI
Leitung/Ansprechpartner: Dr. med. Heike Kramer, Tel.: 09131-406607, E-Mail: kramer@aeggf.de; Verkauf über: anA-Tomie, Eichenweg 11, 91080 Spardorf, Tel. 0 9131 533 94 33, E-Mail: info@ana-tomie.de
Idee/Konzept/Ziel: Aufklärung über FASD anhand einer lebensgroßen Puppe
Realisierung: Dr. med. Heike Kramer, Entwicklerin von FASI sowie Vorstandsvorsitzende der ÄGGF, in Kooperation mit professionellen Puppendesignern, Medizinern und FASD-Fachleuten
Zielpopulation: Fachkräfte der Präventionsarbeit in Schulen, Praxen, Schwangerschaftsberatungsstellen, sozialpädiatrischen Zentren, FASD-Selbsthilfegruppen etc.
Zielregion: Deutschland
Entstehungsjahr/Dauer: 2014 bis heute
Kurzbeschreibung: Lebensgroße Puppe, die die äußeren Merkmale eines Babys mit FAS aufzeigt und zur Veranschaulichung in der Präventionsarbeit dienen soll
Elemente: Puppe
Finanzierung: Sternstunden e.V. (Benefizaktion des bayerischen Rundfunks) finanzierte aus seinen Spendenmitteln die Anschaffung von FASD-Puppen für alle Ärztinnen der ÄGGF, die Puppe kann zudem erworben werden
Aufwand und Kosten für Interessierte: 198,00€ für eine Puppe
Ergebnisse/Evaluation: siehe Präventionsangebot „Schwanger? Dein Kind trinkt mit! Alkohol? Kein Schluck – kein Risiko!“ der ÄGGF
Übertragbarkeit auf andere Zielpopulationen: universeller Präventionsansatz
Übertragbarkeit auf andere Regionen: deutschsprachiger Raum
Einteilung in primär-/sekundär-/tertiär: je nach Gebrauch primär- oder sekundärpräventiv
Quelle und weitere Infos:
https://fasd-netz.de/neue-fasd-puppe-fasi-fuer-die-praeventionsarbeit/
https://äggf.de/unser-engagement/themen/fasd-praevention/
Präventionsangebot: Projekt Wigwam Zero
Leitung/Ansprechpartner: Daniela Dreißig, vista gGmbh, Stromstr.47, 10551 Berlin, Tel 030/224451 400, E-Mail wigwam@vistaberlin.de oder daniela.dreissig@vistaberlin.de
Idee/Konzept/Ziel: Prävention fetaler Alkoholschädigungen durch Aufklärung, Beratung und Schulung
Realisierung: Vista gGmbH
Zielpopulation: Schwangere Frauen und deren Angehörige
Zielregion: Berlin, bundesweit
Entstehungsjahr/Dauer: 2011-heute
Kurzbeschreibung: Das Projekt Wigwam Zero ist ein Modellprojekt zur Prävention fetaler Alkoholschädigungen, in enger Zusammenarbeit mit Wigwam Connect, der aufsuchenden Elternhilfe für werdende Eltern mit Suchtproblemen und der Familienhilfe von Wigwam Mitte und Neukölln
Elemente: Informationsseite zum Thema Alkohol in der Schwangerschaft, Erstberatung für schwangere Frauen und deren Angehörige, Weiterbildungen und Informationsveranstaltungen für Einrichtungen der Sucht- und Jugendhilfe, Familienzentren, der medizinischen Versorgung, Schulen und ähnlichen Einrichtungen; Kampagne „Null Alkohol. Null Risiko.“; Aufklärungsangebote über die Auswirkungen von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft (Broschüren, Plakate, Aufkleber im Mutterpass); Kinospot, Infostände
Finanzierung: Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung. Zu weiteren Förderern gehören der Paritätische Wohlfahrtsverband und StadtRand
Aufwand und Kosten für Interessierte: keine
Ergebnisse/Evaluation: Besucherzähler auf der website seit 2019;
Übertragbarkeit auf andere Zielpopulationen: universeller Präventionsansatz
Übertragbarkeit auf andere Regionen: Der Flyer „Null Alkohol. Null Risiko“ gehörte zu einer im Jahr 2011 begonnenen Kampagne. Der Flyer wird von gynäkologischen Praxen, Familienzentren und Schwangerschaftsberatungsstellen in Berlin angefordert. Der Flyer ist auch in Spanisch, Russisch (4-seitig), Türkisch, Polnisch und Englisch (2-seitig) erhältlich.
Einteilung in primär-/sekundär-/tertiär: primärpräventiv
Quelle und weitere Infos:
Präventionsangebot: „Blau im Bauch“ des Projekts Wigwam Zero
Leitung/Ansprechpartner: Daniela Dreißig, vista gGmbh, Stromstr.47, 10551 Berlin, Tel 030/224451 400, E-Mail wigwam@vistaberlin.de oder daniela.dreissig@vistaberlin.de
Idee/Konzept/Ziel: Primärprävention im schulischen Kontext
Realisierung: Vista gGmbH
Zielpopulation: Endzielgruppe sind Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 13-21 Jahre, das Medienpaket richtet sich an Träger/Institutionen/Multiplikatoren*innen aus Berlin, aber auch Einrichtungen und Schulen aus anderen Bundesländern
Zielregion: Berlin, bundesweit
Entstehungsjahr/Dauer: 2012-heute
Kurzbeschreibung: Präventionsansatz für den schulischen und außerschulischen Kontext in Form eines Medienpakets (Kurzfilm und Begleitheft) als Leitfaden für Pädagogen*innen und andere Multiplikatoren*innen
Elemente: Das Medienpaket enthält neben einem Zeichentrickfilm ein Begleitheft, das als Leitfaden für PädagogInnen und andere MultiplikatorInnen dient. Der Kurzfilm begegnet dem Thema Alkoholkonsum in der Schwangerschaft jugendgerecht. Er soll zu einer Sensibilisierung und Prävention der Fetalen Alkoholspektrumstörung (FASD) führen. Das Heft informiert über jugendliches Konsumverhalten, Teenagerschwangerschaften und FASD. Von der Diskussion in Kleingruppen bis hin zu einem Rollenspiel können diese Methoden flexibel angewandt werden. Ein Wissensquiz für SchülerInnen kann zur Überprüfung des Gelernten vor und nach der Veranstaltung durchgeführt werden. Darüber hinaus bietet es nützliche Adressen zum Thema Alkoholkonsum und Schwangerschaft.
Finanzierung: Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung. Zu weiteren Förderern gehören der Paritätische Wohlfahrtsverband und StadtRand
Aufwand und Kosten für Interessierte: innerhalb Berlins: bis zu drei Exemplare des Medienpakets sind kostenlos, ab vier Exemplaren Schutzgebühr von 1,00€ plus Porto. Andere Bundesländer: Schutzgebühr von 4,00 € je Medienpaket, Versand- und Verpackungskosten. Download von Postkarte und Begleitheft sind kostenfrei.
Ergebnisse/Evaluation: Das Medienheft erschien im Oktober 2012 erstmalig und kam in der Pilotregion Marzahn in ausgewählten Sekundarschulen zum Einsatz. Seitdem wurden 4952 Medienhefte (5. Auflage) hauptsächlich im Bundesland Berlin, aber auch bundesweit an MultiplikatorInnen ausgehändigt/versendet. Im November 2020 wurde die 6. Auflage (1000 Exemplare) gedruckt. An den schulischen Präventionsveranstaltungen nehmen täglich ungefähr 200-300 SchülerInnen teil.
Übertragbarkeit auf andere Zielpopulationen: begrenzt auf Jugendliche und junge Erwachsene
Übertragbarkeit auf andere Regionen: deutschsprachiger Raum
Einteilung in primär-/sekundär-/tertiär: primärpräventiv
Quelle und weitere Infos:
Präventionsangebot: Babybedenkzeit „alkoholgeschädigt“
Leitung/Ansprechpartner: Sabine Gorski, Jens Günther, babybedenkzeit® GbR, Am Dwoberg 79, 27753 Delmenhorst, Telefon: 04221-9813526, E-Mail: info@babybedenkzeit.de
Idee/Konzept/Ziel: „alkoholgeschädigt“ als Teil von „babybedenkzeit“, Aufklärungsmaterial für den Schulunterricht
Realisierung: pädagogische Fachkräfte
Zielpopulation: Jugendliche ab der 7. Jahrgangsstufe
Zielregion: Deutschland
Entstehungsjahr/Dauer: 2000
Kurzbeschreibung: Aufklärungsmaterial zum Thema Alkohol in der Schwangerschaft und FASD
Elemente: Puppe „alkoholgeschädigt“, Handbuch
Finanzierung: ?
Aufwand und Kosten für Interessierte: nicht einsehbar
Ergebnisse/Evaluation: ?
Übertragbarkeit auf andere Zielpopulationen: universeller Präventionsansatz
Übertragbarkeit auf andere Regionen: deutschsprachiger Raum
Einteilung in primär-/sekundär-/tertiär: primärpräventiv
Quelle und weitere Infos:
https://www.babybedenkzeit.de/
(Anmerkung: Website funktioniert nicht richtig, die Infos stammen weitestgehend aus dem abgespeicherten Infomaterial und sind daher noch unvollständig)
Präventionsangebot: „Schwanger? Dein Kind trinkt mit! Alkohol? Kein Schluck – kein Risiko!“
Leitung/Ansprechpartner: Projektleiter: Prof. Dr. Reiner Hanewinkel, Institut für Therapie- und Gesundheitsforschung IFT-Nord gGmbH, Harmsstraße 2, 24114 Kiel, Telefon: 0431/570 29 20, E-Mail: hanewinkel@ift-nord.de
Idee/Konzept/Ziel: Vermittlung von Information über Auswirkungen intrauteriner Alkoholexposition und Wissen über FASD für Jugendliche und junge Erwachsene bereits im Vorfeld von Schwangerschaften und im Setting Schule, um so die Abstinenzmotivation in einer zukünftigen Schwangerschaft zu steigern
Realisierung: Ärztliche Gesellschaft zur Gesundheitsförderung e. V. (ÄGGF)
Zielpopulation: SchülerInnen ab der 8. Jahrgangsstufe
Zielregion: Deutschland
Entstehungsjahr/Dauer: 2015-2018
Kurzbeschreibung: alters- und entwicklungsangepasste ärztliche Informationsveranstaltungen in der Schule, die gezielt auf das Thema Primärprävention von FASD ausgerichtet werden
Elemente: Informationsveranstaltungen an Schulen durch ÄrztInnen der ÄGGF. Inhalte der Informationsveranstaltungen werden auf die unterschiedlichen Schultypen und Klassenstufen abgestimmt. Je nach Alter, Entwicklungsstand und Interesse wird das Thema FASD und dessen Primärprävention in Themen wie männliche/weibliche Anatomie und Physiologie, Fertilität, Kontrazeption, Schwangerschaft/Vaterschaft oder Sexualität eingebettet und dialogisch vermittelt
Finanzierung: ?
Aufwand und Kosten für Interessierte: die Veranstaltungen sind i.d.R. kostenlos
Ergebnisse/Evaluation: In den letzten zehn Jahren wurden mit diesem für Schulen meist kostenfreien Angebot im Rahmen von ca. 57.000 Informationsstunden über eine Million TeilnehmerInnen erreicht.
Übertragbarkeit auf andere Zielpopulationen: universeller Präventionsansatz
Übertragbarkeit auf andere Regionen: deutschsprachiger Raum
Einteilung in primär-/sekundär-/tertiär: primärpräventiv
Quelle und weitere Infos:
Präventionsangebot: Kampagne „Mein Kind will keinen Alkohol“
Leitung/Ansprechpartner: Pernod Ricard Deutschland GmbH, Habsburgerring 2, 50674 Köln, Telefon: +49 (0)221-43 09 09-0, E-Mail: info@pernod-ricard-deutschland.com. Vorsitzender Geschäftsführer: Tim Paech
Idee/Konzept/Ziel: Sensibilisierung für einen verantwortungsvollen Umgang mit Alkohol
Realisierung: Die Initiative wurde gemeinsam mit der Stiftung für das behinderte Kind unter der Leitung von Professor Joachim Dudenhausen ins Leben gerufen.
Zielpopulation: Öffentlichkeit
Zielregion: deutschlandweit
Entstehungsjahr/Dauer: 2010
Kurzbeschreibung: Präventionsinitiative des Spirituosenkonzerns, der sein Schwangerschafts-Piktogramm weltweit auf seinen Flaschen führt und durch TV-Spots und Plakatkampagnen auf das Thema Alkohol in der Schwangerschaft aufmerksam machen möchte.
Elemente: Piktogramm, Website, TV-Spot, Plakate
Finanzierung: Pernod Ricard Deutschland GmbH – Spirituosenindustrie
Aufwand und Kosten für Interessierte: keine
Ergebnisse/Evaluation: ?
Übertragbarkeit auf andere Zielpopulationen: universeller Präventionsansatz
Übertragbarkeit auf andere Regionen: deutschsprachiger Raum
Einteilung in primär-/sekundär-/tertiär: primärpräventiv
Quelle und weitere Infos:
https://www.mein-kind-will-keinen-alkohol.de/
Siehe hierzu auch:Positionspapier der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) zu alkoholindustrie-finanzierter Prävention
Artikel über ein Glaubwürdigkeitsproblem alkoholindustrie-finanzierter Prävention:
Präventionsangebot: Präventionsinitiative „Verantwortung von Anfang an“
Leitung/Ansprechpartner: „Arbeitskreis Alkohol und Verantwortung“ des Bundesverbands der Deutschen Spirituosen-Industrie und -Importeure e. V. (BSI), Geschäftsführerin: Angelika Wiesgen-Pick (E-Mail: info@bsi-bonn.de, oder Thomas Ernst, Vorsitzender des Bundesverbands der Deutschen Spirituosen-Industrie und –Importeure, Urstadtstraße 2, 53129 Bonn, Tel.: 0228/53994-0
Idee/Konzept/Ziel: Information und Aufklärung schwangerer Frauen und deren Umfeld zum Thema Alkohol in der Schwangerschaft.
Realisierung: Internetauftriff: Bundesverband der Deutschen Spirituosen-Industrie und –Importeure (s. Ansprechpartner); Broschüre: Dr. Reinhold Feldmann, Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Münster, FAS-Ambulanz Waldstedde; Faltblatt: Dr.med. Gisela Gille, Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V. (DGGG)
Zielpopulation: Schwangere Frauen und deren Umfeld
Zielregion: Deutschland
Entstehungsjahr/Dauer: 2009
Kurzbeschreibung: Präventionsinitiative des Bundesverbands der Deutschen Spirituosen-Industrie und –Importeure, mit dem Berufsverband der Frauenärzte e.V. als Kooperationspartner
Elemente: Internetauftritt, Broschüren „Verantwortung von Anfang an! – Leitfaden für den Verzicht auf alkoholhaltige Getränke in Schwangerschaft und Stillzeit“ sowie „Verantwortung von Anfang an! – Das fetale Alkoholsyndrom“ und Faltblatt „Was Mädchen über alkoholhaltige Getränke in der Schwangerschaft wissen sollten“
Finanzierung: Spirituosen-Industrie
Aufwand und Kosten für Interessierte: keine
Ergebnisse/Evaluation:
https://www.spirituosen-verband.de/tags/verantwortung-von-anfang-an/
-> siehe Evaluierungsanalysen, darunter:
Übertragbarkeit auf andere Zielpopulationen: ?
Übertragbarkeit auf andere Regionen: deutschsprachiger Raum
Einteilung in primär-/sekundär-/tertiär: ?
Quelle und weitere Infos:
http://www.verantwortung-von-anfang-an.de
https://www.spirituosen-verband.de/tags/verantwortung-von-anfang-an/
Selektive Prävention
Die Ursachen für mütterlichen Alkoholkonsum während der Schwangerschaft können sehr vielfältig, komplex und für Außenstehende oftmals undurchschaubar sein. Psychiatrische Erkrankungen, Unkenntnis über die Schwangerschaft oder die aus dem Alkoholkonsum resultierenden Gefahren für das Kind und psychosoziale Belastungen sind nur einige davon. Hier ist die besondere Wichtigkeit der sogenannten selektiven Prävention anzuführen, die als Zielgruppe explizit schwangere Frauen mit Risikofaktoren ansprechen möchte. Die Voraussetzung für eine Anwendung selektiver Präventionsmaßnahmen ist das Wissen um bestehende Risikofaktoren in den jeweiligen Familien. Risikofaktoren können beispielsweise ein bereits vor der Schwangerschaft bestehender hoher, riskanter Alkoholkonsum oder eine Abhängigkeitserkrankung sein oder jeglicher Alkoholkonsum bei bereits bestehender Schwangerschaft [3]. Die Aufgaben der selektiven Prävention werden von verschiedenen Anlaufstellen übernommen. Prädestiniert hierfür sind besonders Stellen, die die betroffene Familie bereits kennen, wie beispielsweise betreuendes medizinisches Personal (Gynäkologen, Pädiater, Hebammen u.a.) oder Anlaufstellen, an die sich Frauen mit entsprechendem Risikoprofil wenden können (z.B. Schwangerenberatungsstellen, Familienberatungsstellen). Das individuelle Versorgungsnetz der einzelnen Familie und die mit der Begleitung und Unterstützung der Familie beauftragten Fachkräfte spielen bei der selektiven Prävention eine sehr wichtige Rolle.
In der folgenden Graphik haben wir mögliche Anlaufstellen und Fachdisziplinen für die Präventionsarbeit dargestellt.
Anlaufstellen für Familien mit Risikoprofil

Indizierte Prävention
Die indizierte Prävention als weitere wichtige Präventionsform richtet sich an Frauen, deren Schwangerschaft bereits bekannt ist und die weiterhin Alkohol oder andere Substanzen konsumieren [4]. Auch bei dieser Art der Prävention spielen die Anlaufstellen der selektiven Prävention eine wichtige Rolle, da in vielen Fällen bereits ein Vertrauensverhältnis zu den betroffenen Familien besteht und dies das Erfragen und Erkennen eines problematischen Alkoholkonsums während der Schwangerschaft erleichtert. Ein Vertrauensverhältnis sowie ein wertschätzender Umgang, der keine Schuldzuweisungen und Stigmatisierungen enthält, ist besonders wichtig [4] , da betroffene Frauen und Familien oftmals bereits durch ihr Umfeld vielen Anschuldigungen ausgesetzt sind oder sich selbst große Vorwürfe machen, was wiederum zu einem vermehrten Konsum, zu Frustrationen, zu verminderter Selbstwirksamkeit und Behandlungsabbrüchen führen kann. Frauen mit fortbestehendem problematischem Konsum während der Schwangerschaft können von Projekten der indizierten Prävention profitieren. Ein Beispiel für ein derartiges Angebot haben wir hier für Sie aufgeführt.
Präventionsangebot: IRIS – Online-Beratung für Schwangere, Teil der BzgA-Kampagnen „Alkohol – kenn dein Limit“ und „rauchfrei“
Leitung/Ansprechpartner: Prof. Dr. Anil Batra (anil.batra@med.uni-tuebingen.de); Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Sektion Suchtmedizin und Suchtforschung, Calwerstr. 14, 72076 Tübingen, Tel.: 07071 29-8 23 13, E-Mail: irisplattform@med.uni-tuebingen.de
Idee/Konzept/Ziel: Beratungsangebot für Schwangere, die Alkohol konsumieren und/oder rauchen, Begleitung durch verschiedene Konsumphasen
Realisierung: Universitätsklinikum Tübingen
Zielpopulation: schwangere Frauen, die Alkohol konsumieren und/oder rauchen
Zielregion: Deutschland
Entstehungsjahr/Dauer: 2011 bis heute
Kurzbeschreibung: Online-Beratungsangebot für Schwangere zum Thema Alkohol und Tabak in der Schwangerschaft
Elemente: Es gibt drei Versionen des Beratungsangebots
IRIS – Version 1: Für schwangere Frauen, die rauchen, aber keinen Alkohol trinken.
IRIS – Version 2: Für schwangere Frauen, die Alkohol trinken, aber nicht rauchen.
IRIS – Version 3: Für schwangere Frauen, die sowohl rauchen als auch Alkohol trinken.
Finanzierung: 2011 und 2015 wurde IRIS I und II mit Unterstützung aus Mitteln des Bundesministeriums für Gesundheit erstellt, weiterentwickelt und wissenschaftlich untersucht. Die Phase III der IRIS-Entwicklung 2016-2018 wird von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit gefördert.
Aufwand und Kosten für Interessierte: kostenfrei
Ergebnisse/Evaluation:
https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/pdf/10.1055/s-0042-109867.pdf
Übertragbarkeit auf andere Zielpopulationen: ?
Übertragbarkeit auf andere Regionen: deutschsprachiger Raum
Einteilung in primär-/sekundär-/tertiär: Version 2 und 3 der Beratung sind in Bezug auf Alkoholkonsum in der Schwangerschaft sekundärpräventiv
Quelle und weitere Infos:
https://www.iris-plattform.de/
Literatur (Auswahl)
- Robert Koch-Institut (Hrsg) (2014) Daten und Fakten: Ergebnisse der Studie „Gesundheit in Deutschland aktuell 2012“. Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. RKI, Berlin
- Merzenich H, Lang P. Alkohol in der Schwangerschaft – ein kritisches Resümee. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA), Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung, Band 17; 2002.
- Fröschl B, Brunner-Ziegler S, Wirl C. Prävention des fetalen Alkoholsyndroms. Schriftenreihe Health Technology Assessment, Band 130. Köln: DIMDI; 2013.
- Landgraf MN, Hoff T. Fetale Alkoholspektrumstörungen: Diagnostik, Therapie, Prävention: Kohlhammer Verlag; 2018.
Pathophysiologie der Fetalen Alkoholspektrumstörung
Die Kenntnis über die Entstehung eines Krankheitsbildes, also das Wissen um die Pathophysiologie, ist immer auch die Grundlage für die Möglichkeit, Präventionsmaßnahmen zu formulieren. Dies trifft auch auf das Krankheitsbild der Fetalen Alkoholspektrumstörung (FASD) zu, weshalb im Folgenden der aktuelle Wissenstand hierzu zusammengefasst werden soll. Die aus menschlichen Studien erhobenen Daten variieren jedoch stark und tierexperimentelle Studien, häufig durchgeführt an Nagetieren, sind nur eingeschränkt auf den menschlichen Organismus und dessen Entwicklung transferierbar [1]. Insgesamt ist die Pathophysiologie des Krankheitsbildes FASD bisher nur unvollständig erforscht.
Die legale Droge Alkohol, auch bezeichnet als Ethanol, kann auf den sie Konsumierenden vielfältige Auswirkungen durch auftretende Bewusstseinsveränderungen haben. Dieser Alkoholkonsum kann, bei bestehender Schwangerschaft, zu schwerwiegenden Folgen für das ungeborene Kind führen.
Im menschlichen Körper wird Ethanol durch die Enzyme Alkoholdehydrogenase (ADH), Cytochrome P450 E1 (CYP2E1) und durch Peroxidasen zu Acetaldehyd metabolisiert. Dieses Zwischenprodukt ist, aufgrund seiner hohen Bindungsaffinität, potenziell mutagen (erbgutschädigend) und kanzerogen (krebserregend). Zusätzlich entstehen bei diesem Abbau freie Sauerstoffradikale, welche durch ihre unkontrollierte Oxidation von Proteinen, Lipiden und anderen Metaboliten die DNA schädigen und so ebenfalls hochtoxisch für den menschlichen Organismus sind [1]. Diese freien Sauerstoffradikale kommen auch in vielen anderen physiologischen Prozessen vor, weshalb Eliminationswege dafür existieren. Im weiteren Schritt wird Acetaldehyd über die Acetaldehyddehydrogenase (ADHD) zu Acetat umgebaut, welches in den Citratzyklus eingespeist wird und somit der Energiegewinnung zur Verfügung steht. Die beiden Verbindungen Ethanol und Acetaldehyd sind ungehindert plazentagängig und werden so vom mütterlichen Blutkreislauf vollständig in den des Ungeborenen transportiert. Die Quantität und Funktionalität der embryonalen bzw. fetalen Enzyme entspricht nicht denen eines Erwachsenen. Die in der Leber lokalisierte Alkoholdehydrogenase ist im menschlichen Fetus erst ab der 26. Woche funktionsfähig und die, sich im Endoplasmatischen Retikulum befindende CYP2E1 ab der 16. Woche. Diese Differenzen in der Enzymausstattung führen zu einer Akkumulation und somit zu längerem Verbleib und höheren Konzentrationen von Ethanol, dessen Metaboliten und freien Sauerstoffradikalen im Fetus [1]. Diese, im kindlichen Blutkreislauf zirkulierenden, zelltoxischen Stoffe können die Entwicklung von Organen, durch den Übertritt der Blut-Hirn-Schranke das sich entwickelnde Gehirn und das Wachstum beeinflussen [2]. Das Gehirn ist gegenüber den schädigenden Einflüssen von freien Sauerstoffradikalen besonders vulnerabel. Denn im Gehirn entstehen bei der Reaktion mit diesen Sauerstoffradikalen weitere chemische Verbindungen (Superoxide, Quinone und Semiquinone) die an sich wieder hochreaktive Radikale darstellen. Im Gegensatz dazu finden sich im Gehirn weniger Antioxidantien (Superoxid-Dismutase, Katalase, Glutathionperoxidase) als im Blut. Das Hirngewebe ist dasjenige Körpergewebe, welches die höchste Sauerstoffmetabolisierungsrate aufweist und es ist reich an ungesättigten Fettsäuren und selbstoxidierenden Neurotransmittern, welche Substrate von freien Sauerstoffradikalen sind [1] .
Nicht nur die Menge und der Zeitpunkt des mütterlichen Alkoholkonsums in der Schwangerschaft können die Entstehung einer FASD beeinflussen, sondern auch weitere Faktoren wie bestehende Begleiterkrankungen der Mutter, der Konsum weiterer Drogen, die genetischen Grundvoraussetzungen, die Ernährung und der geführte Lebensstil [3]. Die Gewichtung dieser Einflussfaktoren ist bisher unklar.
Auswirkungen der intrauterinen Alkoholexposition gegliedert nach den diagnostischen Säulen der FASD (S3 Leitlinie)
In einem Review zeigten Caputo et al. den Zusammenhang von intrauteriner Alkoholexposition und Veränderungen der Organsysteme auf. Betroffen sind z.B. kardiale, renale, hepatische sowie gastrointestinale Strukturen – und am schwerwiegendsten das Gehirn [2]. Für die Entwicklung der für FASD typischen Auffälligkeiten spielen viele verschiedene biologische Signalwege und deren Interaktion mit Ethanol eine Rolle [4].
Faciale Auffälligkeiten
In tierexperimentellen Studien senkte Ethanol die Expression des Signalmoleküls Sonic Hedgehog (SHH) in Hühnern, Mäusen und Zebrafischen. Weiterhin verminderte Ethanol die Menge an in Zellmembranen gebundenem Cholesterol, welches wiederum wichtig für die Funktion des SHH Signalweges ist. Mutationen in diesem Glykoprotein können unter anderem zum Zelltod von Neuralleistenzellen oder zu strukturellen Verlusten der mittleren cranio-facialen Linie führen. In einer kürzlich erschienenen Studie konnte erstmals ein kausaler Zusammenhang für die Auswirkungen von Ethanol auf den SHH-Signalweg gezeigt werden. Ethanol beeinflusst diesen durch die Interaktion mit den codierenden Genen des dazugehörigen Co-Rezeptors „Cdon“ [5] .
Wachstumsauffälligkeiten
Das Wachstum, die Proliferation und das Überleben von Zellen wird von Wachstumsfaktoren kontrolliert. In vitro Versuche zeigten, dass Ethanol die Aktivität des intrazellulären PI3K/AKT/mTOR-Signalwegs, welcher für die Zellzyklusregulation von Bedeutung ist, vermindert. Ein weiterer mit der Ethanol-Teratogenese in Zusammenhang stehender Effektor ist die Phosphoinositide-3-Kinase (PI3K), welche über die Proteinkinase B (AKT) mehrere Kaskaden in Gang setzt. Die dadurch aktivierten Moleküle sind wiederum wichtig für Wachstum und Überleben auf zellulärer Ebene. In der Noxe Ethanol ausgesetzten Zellkulturen war die Aktivität der Phosphatase PTEN (= phosphatase and tensin homolog), welche für die Hemmung des PI3K-Signalweges verantwortlich ist, erhöht [5].
ZNS-Auffälligkeiten
Intrauterine Alkoholexposition kann Auswirkungen auf das Lernen, die Emotionsregulation, das Gedächtnis, die motorischen Fähigkeiten, die Wahrnehmung und das Verhalten haben. Knapp 45% der intrauterin alkoholexponierten Kinder einer prospektiven Kohortenstudie hatten funktionelle Auffälligkeiten des Zentralnervensystems (ZNS) [2]. Die Beeinträchtigungen von Kindern und Jugendlichen mit FASD, die mit bestimmten Strukturen des ZNS assoziiert sind, sollen im Folgenden, soweit verstanden, beschrieben werden.
Ein, mehrere Studien zusammenfassender, Übersichtsartikel von Caputo von 2016 [2] zeigte als häufig beobachtete alkoholbedingte Veränderungen des ZNS ein geringes Hirnvolumen sowohl der weißen als auch der grauen Substanz und Malformationen des Corpus Callosum (Balken). Das Corpus Callosum, welches funktionell zusammenhängende Hirnregionen der beiden Hemisphären miteinander verbindet, zeigte bei intrauteriner Alkoholexposition eine Ausdünnung der Kommissurenfasern und komplette oder teilweise Agenesien. Der davon ebenfalls betroffene, hintere verdickte Teil des Corpus Callosum wird als Splenium bezeichnet. Er beinhaltet unter anderem die Verbindungen der Parietal- und Temporallappen und ist damit wichtig für den Austausch zwischen visuellen / visuell-räumlichen Cortexarealen. Weitere betroffene Bereiche innerhalb des Splenium corpus callosi führen bei Schädigung zu Einschränkungen der verbalen Lernfähigkeit.
Im Übersichtsartikel [2] ist außerdem beschrieben, dass der cerebrale Kortex Abweichungen in Volumen und Dicke aufweist. Diese Veränderungen können, wenn sie den Frontallappen betreffen, in Beeinträchtigungen des Arbeitsgedächtnisses und der Aufmerksamkeit resultieren. Bei Kindern mit FAS wurde eine Reduktion der weißen Substanz mit gleichzeitiger Zunahme der Dicke des Parietallappens, welchem räumlich-visuelle Funktionen und Aufmerksamkeit zugeschrieben werden, beobachtet. Außerdem wurde eine signifikante Aktivitätsabnahme des linken Temporallappen bei Kindern mit FAS beschrieben. Dieser ist unter anderem bedeutend für die Gedächtnisbildung, die Hörverarbeitung und das Sprachverstehen.
Der Nucleus caudatus, Bestandteil der subcortical lokalisierten Basalganglien, ist bei Alkoholexposition häufig kleiner [2]. Diese Abweichung kann zu Problemen in der Bewegungskontrolle, der Lernfähigkeit und der Verhaltenshemmung führen.
Das Kleinhirn, welches eine wichtige Struktur für die exekutiven Funktionen, die Aufmerksamkeit und die Abstimmung von Bewegungsabläufen ist, kann ebenfalls Abweichungen aufweisen. Der Vermis, einem Teil des Kleinhirns, werden bei Schädigung durch intrauterine Alkoholexposition unzureichende verbale Lernfähigkeiten zugeschrieben [2].
In einer weiteren Studie konnte für das Volumen des Hippocampus, im Vergleich zur gesunden Kontrollgruppe, keine Veränderungen bei Menschen mit FASD festgestellt werden [5].
Von FASD erfahrenen ÄrztInnen und PsychologInnen werden häufig ZNS-Auffälligkeiten in Form von Beeinträchtigungen der exekutiven Funktionen, der visuell-räumlichen Fertigkeiten, der emotionalen Regulation, der Aufmerksamkeit und des Verhaltens bei Menschen mit FASD beschrieben. Diese im klinischen Alltag beobachteten Auffälligkeiten resultieren aus den oben beschriebenen strukturellen cerebralen Veränderungen. Häufig sind diese alkoholtoxischen Schäden auf die (mikro-)zelluläre Ebene beschränkt, so dass keine größeren strukturellen Veränderungen in bildgebenden Verfahren, wie der Magnetresonanztomographie (auch bei 1mm-Schichtung), zu sehen sind. Bildgebende Verfahren zählen somit nicht zu den Standarddiagnosetools für FASD, da sie nicht als Screening-Instrument etabliert sind und Spezifität und Sensitivität bisher unbekannt sind [6]. Daher gelten die beschriebenen strukturellen Schädigungen des ZNS, mit Ausnahme der Mikrocephalie (Kopfumfang unter der 3.Perzentile), auch nicht als Diagnosekriterien für die FASD in der S3-Leitlinie.
- Ehrhart F, Roozen S, Verbeek J et al. (2019) Review and gap analysis: molecular pathways leading to fetal alcohol spectrum disorders. Mol Psychiatry 24:10-17.
- Caputo C, Wood E, Jabbour L (2016) Impact of fetal alcohol exposure on body systems: A systematic review. Birth Defects Research Part C: Embryo Today: Reviews 108:174-180.
- Ciafrè S, Ferraguti G, Greco A et al. (2020) Alcohol as an early life stressor: Epigenetics, metabolic, neuroendocrine and neurobehavioral implications. Neurosci Biobehav Rev 118:654-668.
- Rb Liyanage V, Curtis K, M Zachariah R, E Chudley A, Rastegar M (2017) Overview of the genetic basis and epigenetic mechanisms that contribute to FASD pathobiology. Current topics in medicinal chemistry 17:808-828.
- Archibald SL, Fennema‐Notestine C, Gamst A, Riley EP, Mattson SN, Jernigan TL (2001) Brain dysmorphology in individuals with severe prenatal alcohol exposure. Developmental Medicine & Child Neurology 43:148-154.
- Landgraf MN, Heinen F (2016) Fetale Alkoholspektrumstörungen: S3-Leitlinie zur Diagnostik. Kohlhammer Verlag.
Diagnose FASD
Hintergrund – Informationen
Etwa ein Drittel aller Frauen in Deutschland trinkt Alkohol während der Schwangerschaft.
Kein Zeitpunkt und keine Menge an Alkohol sind in der Schwangerschaft erwiesenermaßen unschädlich für das werdende Kind.
Im Mutterleib kann die Exposition gegenüber Alkohol, einem der schädlichsten Umweltgifte, zu einer toxischen, biologisch irreversiblen Gehirnschädigung beim Kind führen.
Daraus können vielfältige und schwerwiegende Beeinträchtigungen in der körperlichen und geistigen Entwicklung des Kindes, im Verhalten und weiterführend in der selbstständigen Lebensbewältigung entstehen.
Diese Beeinträchtigungen werden als Fetale Alkoholspektrumstörungen – FASD (fetal alcohol spectrum disorders) – zusammengefasst. Zu den FASD zählen das Fetale Alkoholsyndrom (FAS), das partielle Fetale Alkoholsyndrom (pFAS) und die alkoholbedingte entwicklungsneurologische Störung (ARND-alcohol related neurodevelopmental disorder).
Mindestens 1% aller Kinder kommen mit einer FASD auf die Welt – damit ist die FASD die häufigste mit Geburt bestehende chronische Krankheit in Deutschland.
Sie kann durch Alkoholabstinenz in der Schwangerschaft vollständig vermieden werden.
Alkoholkonsum in der Schwangerschaft und dessen Folgen beim Kind sind dabei nicht das Problem einer einzelnen Frau, sondern eine gesellschaftliche Herausforderung.
Orientierung bei der FASD Abklärung
Unter diesem Link können Sie als ÄrztInnen und PsychologInnen anhand Ihrer Eingaben in die WebApp
erfahren, ob – basierend auf den S3 Leitlinien-Kriterien – Hinweise auf eine FASD beim Kind
vorliegen oder nicht und welches Procedere wir empfehlen. Zusätzlich können Sie die FASD Complexity Signature ausfüllen und Ihre Dokumentation downloaden oder ausdrucken.
Diagnostische Kriterien nach S3 Leitlinie
Die frühzeitige und korrekte Diagnosestellung FASD ist die Grundlage für das Krankheitskonzept und somit das Krankheitsverständnis sowie die Voraussetzung für die Planung einer für das Störungsbild adäquaten und individuell angepassten Therapie.
Die
Drogenbeauftragte der Bundesregierung und das Bundesministerium für
Gesundheit (BMG) initiierten 2010 das Leitlinien-Projekt zum FAS, das
2016 mit der Erstellung einer S3-Leitlinie für die Diagnose FASD abgeschlossen wurde –
siehe auch http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/022-025.html.
Die
Leitlinienentwicklung wurde der Deutschen Gesellschaft für Kinder-
und Jugendmedizin übertragen und inhaltlich der Gesellschaft für
Neuropädiatrie zugewiesen. Leitlinienkoordination und Autorenschaft
übernahmen Dr. med. Dipl.-Psych. Mirjam N. Landgraf und Prof.
Dr. med. Florian Heinen vom LMU Klinikum München, Dr. von
Haunersches Kinderspital mit seinem integrierten Sozialpädiatrischen
Zentrum iSPZ Hauner (www.ispz-hauner.de).
Die
Leitliniengruppe bestand aus RepräsentantInnen des
Bundesministeriums für Gesundheit, der relevanten Fachgesellschaften
und Berufsverbände, der Patientenvertretung FASD Deutschland e.V.
und namhaften weiteren FASD-Experten.
Die
Literatur der letzten 10 Jahre wurde evaluiert und hinsichtlich ihrer
methodischen Qualität bewertet. Die daraus resultierenden
evidenzbasierten Ergebnisse wurden in den multidisziplinären
Konsensuskonferenzen hinsichtlich klinischer Relevanz, ethischen
Hintergründen und Praktikabilität diskutiert, modifiziert und
konsentiert. Die konsentierten diagnostischen Empfehlungen wurden
daraufhin formell verabschiedet.
In der nachfolgenden Tabelle sind die bei den verschiedenen Fetalen Alkoholspektrumstörungen typischerweise auftretenden phänotypischen Auffälligkeiten und Symptome in der jeweiligen diagnostischen Säule als Orientierungshilfe zusammengefasst (SD-standard deviation-Standardabweichung).
Eine Orientierungshilfe zur Abklärung von FASD bei Kindern und Jugendlichen finden Sie in Form einer interaktiven WebApp als Extra-Punkt unter dem Menü „Fachkräfte“.
Die exakten Kriterien der S3 Leitlinie zur Diagnose der FASD bei Kindern und Jugendlichen finden Sie im Text darunter [1-3].
Auffälligkeiten in Domäne: | Fetales Alkoholsyndrom – FAS | Partielles Fetales Alkoholsyndrom – pFAS | Alkoholbedingte entwicklungs-neurologische Störung – ARND |
Wachstum: Geburts- oder Körpergewicht oder Geburts- oder Körperlänge oder Body Mass Index ≤ 10. Perzentile |
mind. 1 Auffälligkeit | ||
Gesicht: 1) kurze Lidspalten ≤ 3. Perzentile bzw. mind. 2 SD unter der Norm 2) verstrichenes Philtrum (Grad 4 oder 5 Lip-Philtrum Guide) 3) schmale Oberlippe (Grad 4 oder 5 Lip-Philtrum Guide) |
alle 3 Auffälligkeiten | mind. 2 von 3 Auffälligkeiten | |
Zentrales Nervensystem (ZNS): funktionell und strukturell |
globale Intelligenzminderung (mindestens 2 SD unter der Norm) oder signifikante kombinierte Entwicklungsverzögerung ≤ 2 Jahre oder/und signifikante Beeinträchtigung in mind. 3 Bereichen:
Kopfumfang ≤ 10. Perzentile |
signifikante Beeinträchtigung in mind. 3 Bereichen (alle folgenden Aufzählungspunkte sind gleichwertige Kriterien):
|
signifikante Beeinträchtigung in mind. 3 Bereichen (alle folgenden Aufzählungspunkte sind gleichwertige Kriterien):
|
Intrauterine Alkoholexposition | nicht bestätigt oder bestätigt | wahrscheinlich oder bestätigt | bestätigt |
Auffälligkeiten in Domäne: | Fetales Alkoholsyndrom – FAS |
Wachstum: Geburts- oder Körpergewicht oder Geburts- oder Körperlänge oder Body Mass Index ≤ 10. Perzentile |
mind. 1 Auffälligkeit |
Gesicht: 1) kurze Lidspalten ≤ 3. Perzentile bzw. mind. 2 SD unter der Norm 2) verstrichenes Philtrum (Grad 4 oder 5 Lip-Philtrum Guide) 3) schmale Oberlippe (Grad 4 oder 5 Lip-Philtrum Guide) |
alle 3 Auffälligkeiten |
Zentrales Nervensystem (ZNS): funktionell und strukturell |
globale Intelligenzminderung (mindestens 2 SD unter der Norm) oder signifikante kombinierte Entwicklungsverzögerung ≤ 2 Jahre oder/und signifikante Beeinträchtigung in mind. 3 Bereichen:
Kopfumfang ≤ 10. Perzentile |
Intrauterine Alkoholexposition | nicht bestätigt oder bestätigt |
Auffälligkeiten in Domäne: | Partielles Fetales Alkoholsyndrom – pFAS |
Wachstum: Geburts- oder Körpergewicht oder Geburts- oder Körperlänge oder Body Mass Index ≤ 10. Perzentile |
|
Gesicht: 1) kurze Lidspalten ≤ 3. Perzentile bzw. mind. 2 SD unter der Norm 2) verstrichenes Philtrum (Grad 4 oder 5 Lip-Philtrum Guide) 3) schmale Oberlippe (Grad 4 oder 5 Lip-Philtrum Guide) |
mind. 2 von 3 Auffälligkeiten |
Zentrales Nervensystem (ZNS): funktionell und strukturell |
signifikante Beeinträchtigung in mind. 3 Bereichen (alle folgenden Aufzählungspunkte sind gleichwertige Kriterien):
|
Intrauterine Alkoholexposition | wahrscheinlich oder bestätigt |
Auffälligkeiten in Domäne: | Alkoholbedingte entwicklungs-neurologische Störung – ARND |
Wachstum: Geburts- oder Körpergewicht oder Geburts- oder Körperlänge oder Body Mass Index ≤ 10. Perzentile |
|
Gesicht: 1) kurze Lidspalten ≤ 3. Perzentile bzw. mind. 2 SD unter der Norm 2) verstrichenes Philtrum (Grad 4 oder 5 Lip-Philtrum Guide) 3) schmale Oberlippe (Grad 4 oder 5 Lip-Philtrum Guide) |
|
Zentrales Nervensystem (ZNS): funktionell und strukturell |
signifikante Beeinträchtigung in mind. 3 Bereichen (alle folgenden Aufzählungspunkte sind gleichwertige Kriterien):
|
Intrauterine Alkoholexposition | bestätigt |
Diagnose des Fetalen Alkoholsyndroms – FAS
Zur Diagnose eines FAS sollten alle Kriterien 1. bis 4. (die 4 diagnostischen Säulen des FAS) zutreffen:
1. Wachstumsauffälligkeiten,
2. faciale Auffälligkeiten,
3. ZNS-Auffälligkeiten
4. intrauterine Alkoholexposition.
Zu 1.
Zur Erfüllung des Kriteriums Wachstumsauffälligkeiten soll mindestens 1 der folgenden Auffälligkeiten zutreffen:
- Geburts- oder Körpergewicht ≤ 10. Perzentile
- Geburts- oder Körperlänge ≤ 10. Perzentile
- Body Mass Index ≤ 10. Perzentile.
Die
gemessenen Körpermaße sollten an das Gestationsalter, Alter und
Geschlecht adaptiert und auf Perzentilenkurven eingetragen werden.
Auch
wenn die Kinder ihr Wachstum, z.B. in der Pubertät, aufholen, gelten
in jüngerem Alter dokumentierte Verringerungen der Körpermaße als
erfülltes Kriterium für FAS. Ebenso zählen ein Untergewicht
und/oder ein Kleinwuchs in späterem Alter als erfülltes Kriterium
auch wenn z.B. bei Geburt oder im Säuglingsalter durchschnittlichen
Perzentilen dokumentiert wurden.
Es
sollte ausgeschlossen werden, dass die Wachstumsstörung allein durch
andere Ursachen wie familiärer Kleinwuchs oder konstitutionelle
Entwicklungsverzögerung, pränatale Mangelzustände,
Skelettdysplasien, hormonelle Störungen, genetische Syndrome,
chronische Erkrankungen, Malabsorption, Mangelernährung oder
Vernachlässigung erklärt werden kann.
Zu 2.
Zur Erfüllung des Kriteriums “Faciale Auffälligkeiten”
sollen alle 3 facialen Anomalien vorhanden sein:
- Kurze Lidspalten (mind. 2 Standardabweichungen unter der Norm = ≤ 3. Perzentile)
- Verstrichenes Philtrum (Rang 4 oder 5 auf dem Lip-Philtrum-Guide. Astley et al. 2004)
- Schmale Oberlippe (Rang 4 oder 5 auf dem Lip-Philtrum-Guide)
Die Lidspaltenlänge kann mittels eines durchsichtigen Lineals direkt am Patienten oder auf einer Photographie des Patienten mit Referenzmaßstab, z.B. 1cm großer, auf die Stirn geklebter Punkt, gemessen und in die verfügbaren Perzentilenkurven eingetragen werden (Abb. 1).



(© 2020 PD Dr. med. Dipl.-Psych. Mirjam N. Landgraf, Ludwig-Maximilians-Universität München)
Die Oberlippe und das Philtrum können anhand des Lip-Philtrum-Guide von Astley et al. quantitativ eingeordnet werden (Beispiele siehe Abbildung 2). Dabei gelten Messungen mit vier und mit fünf von fünf Punkten auf der Skala als pathologisch (https://depts.washington.edu/fasdpn/htmls/lip-philtrum-guides.htm).



(© 2020 PD Dr. med. Dipl.-Psych. Mirjam N. Landgraf, Ludwig-Maximilians-Universität München)
Zu 3.
Zur Erfüllung des Kriteriums “Funktionelle ZNS-Auffälligkeiten“ sollte mindestens 1 der folgenden Auffälligkeiten zutreffen:
3.1. Funktionelle ZNS-Auffälligkeiten
3.2. Strukturelle ZNS-Auffälligkeiten
3.1.
Zur Erfüllung des Kriteriums „Funktionelle ZNS-Auffälligkeiten“
sollte mindestens 1 der folgenden Auffälligkeiten zutreffen,
die nicht adäquat für das Alter ist
und nicht allein durch den familiären Hintergrund oder das soziale Umfeld erklärt werden kann:
- Globale Intelligenzminderung mindestens 2 Standardabweichungen unterhalb der Normodersignifikante kombinierte Entwicklungsverzögerung bei Kindern unter 2 Jahren
- Leistung mindestens 2 Standardabweichungen unterhalb der Norm in mindestens 3 der folgenden Bereicheoderin mindestens 2 der folgenden Bereiche in Kombination mit Epilepsie:
- Sprache
- Feinmotorik
- Räumlich-visuelle Wahrnehmung oder räumlich-konstruktive Fähigkeiten
- Lern- oder Merkfähigkeit
- Exekutive Funktionen
- Rechenfertigkeiten
- Aufmerksamkeit
- Soziale Fertigkeiten oder Verhalten
3.2.
Zur Erfüllung des Kriteriums „Strukturelle ZNS-Auffälligkeiten“
sollte folgende Auffälligkeit,
adaptiert an Gestationsalter, Alter, Geschlecht,
dokumentiert zu einem beliebigen Zeitpunkt,
zutreffen:
Mikrocephalie (Kopfumfang ≤ 10. Perzentile)
Zu 4.
Wenn Auffälligkeiten in den drei übrigen diagnostischen Säulen bestehen,
soll die Diagnose eines Fetalen Alkoholsyndroms auch ohne Bestätigung eines mütterlichen Alkoholkonsums während der Schwangerschaft gestellt werden
Diagnose des partiellen Fetalen Alkoholsyndroms – pFAS
Zur Diagnose eines pFAS sollen alle Kriterien 1. bis 3. (die 3 diagnostischen Säulen des pFAS) zutreffen:
1. faciale Auffälligkeiten,
2. ZNS-Auffälligkeiten
3. intrauterine Alkoholexposition.
Die Wachstum-Säule entfällt für die Diagnose des pFAS.
Zu 1.
Für die Diagnose des pFAS sollen zwei der drei, oben beschriebenen, facialen Auffälligkeiten, dokumentiert zu einem beliebigen Zeitpunkt vorhanden sein.
Zu 2.
Zur Erfüllung des Kriteriums “ZNS-Auffälligkeiten”
sollen mind. 3 der folgenden Auffälligkeiten zutreffen,
die nicht adäquat für das Alter sind
und nicht allein durch den familiären Hintergrund oder das soziale Umfeld erklärt werden können:
- Globale Intelligenzminderung (mind. 2 SD unter der Norm) oder signifikante kombinierte Entwicklungsverzögerung bei Kindern ≤ 2 J.
- Epilepsie
- Mikrocephalie ≤ 10. Perzentile
Leistung mind. 2 SD unter der Norm in den Bereichen:
- Sprache
- Fein-/Graphomotorik oder grobmotorische Koordination
- Räumlich-visuelle Wahrnehmung oder räumlich-konstruktive Fähigkeiten
- Lern- oder Merkfähigkeit
- Exekutive Funktionen
- Rechenfertigkeiten
- Aufmerksamkeit
- Soziale Fertigkeiten oder Verhalten
Im
Gegensatz zum FAS reicht beim pFAS das alleinige Vorliegen einer
Mikrocephalie oder eine Intelligenzminderung nicht für die Diagnose
aus.
Alle mit Aufzählungspunkten versehenen Bereiche gelten als
gleichwertig für die Diagnosestellung.
Zu 3.
Die intrauterine Alkoholexposition sollte für die Diagnose eines pFAS bestätigt oder wahrscheinlich sein, um Über- bzw. Fehldiagnosen zu vermeiden.
Diagnose der alkoholbedingten entwicklungsneurologischen Störung – ARND – alcohol related neurodevelopmental disorders
Zur Diagnose einer ARND sollen die Kriterien 1. und 2. (die 2 diagnostischen Säulen der ARND) zutreffen:
1. ZNS-Auffälligkeiten
2. intrauterine Alkoholexposition
Die Säulen der Wachstums- und facialen Auffälligkeiten entfällt.
Zu 1.
Zur Erfüllung des Kriteriums „ZNS-Auffälligkeiten“
sollen mind. 3 der folgenden Auffälligkeiten zutreffen,
die nicht adäquat für das Alter sind
und nicht allein durch familiären Hintergrund oder das soziale Umfeld erklärt werden können:
- Globale Intelligenzminderung (mind. 2 SD unter der Norm) oder signifikante kombinierte Entwicklungsverzögerung bei Kindern ≤ 2 J.
- Epilepsie
- Mikrocephalie ≤ 10. Perzentile
Leistung mind. 2 SD unter der Norm in den Bereichen:
- Sprache
- Fein-/Graphomotorik oder grobmotorische Koordination
- Räumlich-visuelle Wahrnehmung oder räumlich-konstruktive Fähigkeiten
- Lern- oder Merkfähigkeit
- Exekutive Funktionen
- Rechenfertigkeiten
- Aufmerksamkeit
- Soziale Fertigkeiten oder Verhalten
Zu 2.
Wenn ZNS-Auffälligkeiten vorhanden sind,
soll
die Diagnose einer ARND bei bestätigtem
mütterlichem Alkoholkonsum während der Schwangerschaft gestellt
werden.
Diagnose der alkoholbedingten angeborenen Fehlbildungen – ARBD – alcohol related birth defects
Alcohol related birth defects (ARBD) soll in Deutschland,
wegen der fehlenden Spezifität der Malformationen und
der fehlenden Evidenz für ARBD als eindeutige Krankheits-Entität,
nicht als Diagnose verwendet werden.
Die frühzeitige und korrekte Diagnosestellung FASD ist die Grundlage für das Krankheitskonzept und somit das Krankheitsverständnis sowie die Voraussetzung für die Planung einer für das Störungsbild adäquaten und individuell angepassten Therapie.
Die
Drogenbeauftragte der Bundesregierung und das Bundesministerium für
Gesundheit (BMG) initiierten 2010 das Leitlinien-Projekt zum FAS, das
2016 mit der Erstellung einer S3-Leitlinie für die Diagnose FASD abgeschlossen wurde –
siehe auch http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/022-025.html.
Die
Leitlinienentwicklung wurde der Deutschen Gesellschaft für Kinder-
und Jugendmedizin übertragen und inhaltlich der Gesellschaft für
Neuropädiatrie zugewiesen. Leitlinienkoordination und Autorenschaft
übernahmen Dr. med. Dipl.-Psych. Mirjam N. Landgraf und Prof.
Dr. med. Florian Heinen vom LMU Klinikum München, Dr. von
Haunersches Kinderspital mit seinem integrierten Sozialpädiatrischen
Zentrum iSPZ Hauner (www.ispz-hauner.de).
Die
Leitliniengruppe bestand aus RepräsentantInnen des
Bundesministeriums für Gesundheit, der relevanten Fachgesellschaften
und Berufsverbände, der Patientenvertretung FASD Deutschland e.V.
und namhaften weiteren FASD-Experten.
Die
Literatur der letzten 10 Jahre wurde evaluiert und hinsichtlich ihrer
methodischen Qualität bewertet. Die daraus resultierenden
evidenzbasierten Ergebnisse wurden in den multidisziplinären
Konsensuskonferenzen hinsichtlich klinischer Relevanz, ethischen
Hintergründen und Praktikabilität diskutiert, modifiziert und
konsentiert. Die konsentierten diagnostischen Empfehlungen wurden
daraufhin formell verabschiedet.
In der nachfolgenden Tabelle sind die bei den verschiedenen Fetalen Alkoholspektrumstörungen typischerweise auftretenden phänotypischen Auffälligkeiten und Symptome in der jeweiligen diagnostischen Säule als Orientierungshilfe zusammengefasst (SD-standard deviation-Standardabweichung).
Eine Orientierungshilfe zur Abklärung von FASD bei Kindern und Jugendlichen finden Sie in Form einer interaktiven WebApp als Extra-Punkt unter dem Menü „Fachkräfte“.
Die exakten Kriterien der S3 Leitlinie zur Diagnose der FASD bei Kindern und Jugendlichen finden Sie im Text darunter [1-3].
Auffälligkeiten in Domäne: | Fetales Alkoholsyndrom – FAS | Partielles Fetales Alkoholsyndrom – pFAS | Alkoholbedingte entwicklungs-neurologische Störung – ARND |
Wachstum: Geburts- oder Körpergewicht oder Geburts- oder Körperlänge oder Body Mass Index ≤ 10. Perzentile |
mind. 1 Auffälligkeit | ||
Gesicht: 1) kurze Lidspalten ≤ 3. Perzentile bzw. mind. 2 SD unter der Norm 2) verstrichenes Philtrum (Grad 4 oder 5 Lip-Philtrum Guide) 3) schmale Oberlippe (Grad 4 oder 5 Lip-Philtrum Guide) |
alle 3 Auffälligkeiten | mind. 2 von 3 Auffälligkeiten | |
Zentrales Nervensystem (ZNS): funktionell und strukturell |
globale Intelligenzminderung (mindestens 2 SD unter der Norm) oder signifikante kombinierte Entwicklungsverzögerung ≤ 2 Jahre oder/und signifikante Beeinträchtigung in mind. 3 Bereichen:
Kopfumfang ≤ 10. Perzentile |
signifikante Beeinträchtigung in mind. 3 Bereichen (alle folgenden Aufzählungspunkte sind gleichwertige Kriterien):
|
signifikante Beeinträchtigung in mind. 3 Bereichen (alle folgenden Aufzählungspunkte sind gleichwertige Kriterien):
|
Intrauterine Alkoholexposition | nicht bestätigt oder bestätigt | wahrscheinlich oder bestätigt | bestätigt |
Auffälligkeiten in Domäne: | Fetales Alkoholsyndrom – FAS |
Wachstum: Geburts- oder Körpergewicht oder Geburts- oder Körperlänge oder Body Mass Index ≤ 10. Perzentile |
mind. 1 Auffälligkeit |
Gesicht: 1) kurze Lidspalten ≤ 3. Perzentile bzw. mind. 2 SD unter der Norm 2) verstrichenes Philtrum (Grad 4 oder 5 Lip-Philtrum Guide) 3) schmale Oberlippe (Grad 4 oder 5 Lip-Philtrum Guide) |
alle 3 Auffälligkeiten |
Zentrales Nervensystem (ZNS): funktionell und strukturell |
globale Intelligenzminderung (mindestens 2 SD unter der Norm) oder signifikante kombinierte Entwicklungsverzögerung ≤ 2 Jahre oder/und signifikante Beeinträchtigung in mind. 3 Bereichen:
Kopfumfang ≤ 10. Perzentile |
Intrauterine Alkoholexposition | nicht bestätigt oder bestätigt |
Auffälligkeiten in Domäne: | Partielles Fetales Alkoholsyndrom – pFAS |
Wachstum: Geburts- oder Körpergewicht oder Geburts- oder Körperlänge oder Body Mass Index ≤ 10. Perzentile |
|
Gesicht: 1) kurze Lidspalten ≤ 3. Perzentile bzw. mind. 2 SD unter der Norm 2) verstrichenes Philtrum (Grad 4 oder 5 Lip-Philtrum Guide) 3) schmale Oberlippe (Grad 4 oder 5 Lip-Philtrum Guide) |
mind. 2 von 3 Auffälligkeiten |
Zentrales Nervensystem (ZNS): funktionell und strukturell |
signifikante Beeinträchtigung in mind. 3 Bereichen (alle folgenden Aufzählungspunkte sind gleichwertige Kriterien):
|
Intrauterine Alkoholexposition | wahrscheinlich oder bestätigt |
Auffälligkeiten in Domäne: | Alkoholbedingte entwicklungs-neurologische Störung – ARND |
Wachstum: Geburts- oder Körpergewicht oder Geburts- oder Körperlänge oder Body Mass Index ≤ 10. Perzentile |
|
Gesicht: 1) kurze Lidspalten ≤ 3. Perzentile bzw. mind. 2 SD unter der Norm 2) verstrichenes Philtrum (Grad 4 oder 5 Lip-Philtrum Guide) 3) schmale Oberlippe (Grad 4 oder 5 Lip-Philtrum Guide) |
|
Zentrales Nervensystem (ZNS): funktionell und strukturell |
signifikante Beeinträchtigung in mind. 3 Bereichen (alle folgenden Aufzählungspunkte sind gleichwertige Kriterien):
|
Intrauterine Alkoholexposition | bestätigt |
Diagnose des Fetalen Alkoholsyndroms – FAS
Zur Diagnose eines FAS sollten alle Kriterien 1. bis 4. (die 4 diagnostischen Säulen des FAS) zutreffen:
1. Wachstumsauffälligkeiten,
2. faciale Auffälligkeiten,
3. ZNS-Auffälligkeiten
4. intrauterine Alkoholexposition.
Zu 1.
Zur Erfüllung des Kriteriums Wachstumsauffälligkeiten soll mindestens 1 der folgenden Auffälligkeiten zutreffen:
- Geburts- oder Körpergewicht ≤ 10. Perzentile
- Geburts- oder Körperlänge ≤ 10. Perzentile
- Body Mass Index ≤ 10. Perzentile.
Die
gemessenen Körpermaße sollten an das Gestationsalter, Alter und
Geschlecht adaptiert und auf Perzentilenkurven eingetragen werden.
Auch
wenn die Kinder ihr Wachstum, z.B. in der Pubertät, aufholen, gelten
in jüngerem Alter dokumentierte Verringerungen der Körpermaße als
erfülltes Kriterium für FAS. Ebenso zählen ein Untergewicht
und/oder ein Kleinwuchs in späterem Alter als erfülltes Kriterium
auch wenn z.B. bei Geburt oder im Säuglingsalter durchschnittlichen
Perzentilen dokumentiert wurden.
Es
sollte ausgeschlossen werden, dass die Wachstumsstörung allein durch
andere Ursachen wie familiärer Kleinwuchs oder konstitutionelle
Entwicklungsverzögerung, pränatale Mangelzustände,
Skelettdysplasien, hormonelle Störungen, genetische Syndrome,
chronische Erkrankungen, Malabsorption, Mangelernährung oder
Vernachlässigung erklärt werden kann.
Zu 2.
Zur Erfüllung des Kriteriums “Faciale Auffälligkeiten”
sollen alle 3 facialen Anomalien vorhanden sein:
- Kurze Lidspalten (mind. 2 Standardabweichungen unter der Norm = ≤ 3. Perzentile)
- Verstrichenes Philtrum (Rang 4 oder 5 auf dem Lip-Philtrum-Guide. Astley et al. 2004)
- Schmale Oberlippe (Rang 4 oder 5 auf dem Lip-Philtrum-Guide)
Die Lidspaltenlänge kann mittels eines durchsichtigen Lineals direkt am Patienten oder auf einer Photographie des Patienten mit Referenzmaßstab, z.B. 1cm großer, auf die Stirn geklebter Punkt, gemessen und in die verfügbaren Perzentilenkurven eingetragen werden (Abb. 1).



(© 2020 PD Dr. med. Dipl.-Psych. Mirjam N. Landgraf, Ludwig-Maximilians-Universität München)
Die Oberlippe und das Philtrum können anhand des Lip-Philtrum-Guide von Astley et al. quantitativ eingeordnet werden (Beispiele siehe Abbildung 2). Dabei gelten Messungen mit vier und mit fünf von fünf Punkten auf der Skala als pathologisch (https://depts.washington.edu/fasdpn/htmls/lip-philtrum-guides.htm).



(© 2020 PD Dr. med. Dipl.-Psych. Mirjam N. Landgraf, Ludwig-Maximilians-Universität München)
Zu 3.
Zur Erfüllung des Kriteriums “Funktionelle ZNS-Auffälligkeiten“ sollte mindestens 1 der folgenden Auffälligkeiten zutreffen:
3.1. Funktionelle ZNS-Auffälligkeiten
3.2. Strukturelle ZNS-Auffälligkeiten
3.1.
Zur Erfüllung des Kriteriums „Funktionelle ZNS-Auffälligkeiten“
sollte mindestens 1 der folgenden Auffälligkeiten zutreffen,
die nicht adäquat für das Alter ist
und nicht allein durch den familiären Hintergrund oder das soziale Umfeld erklärt werden kann:
- Globale Intelligenzminderung mindestens 2 Standardabweichungen unterhalb der Normodersignifikante kombinierte Entwicklungsverzögerung bei Kindern unter 2 Jahren
- Leistung mindestens 2 Standardabweichungen unterhalb der Norm in mindestens 3 der folgenden Bereicheoderin mindestens 2 der folgenden Bereiche in Kombination mit Epilepsie:
- Sprache
- Feinmotorik
- Räumlich-visuelle Wahrnehmung oder räumlich-konstruktive Fähigkeiten
- Lern- oder Merkfähigkeit
- Exekutive Funktionen
- Rechenfertigkeiten
- Aufmerksamkeit
- Soziale Fertigkeiten oder Verhalten
3.2.
Zur Erfüllung des Kriteriums „Strukturelle ZNS-Auffälligkeiten“
sollte folgende Auffälligkeit,
adaptiert an Gestationsalter, Alter, Geschlecht,
dokumentiert zu einem beliebigen Zeitpunkt,
zutreffen:
Mikrocephalie (Kopfumfang ≤ 10. Perzentile)
Zu 4.
Wenn Auffälligkeiten in den drei übrigen diagnostischen Säulen bestehen,
soll die Diagnose eines Fetalen Alkoholsyndroms auch ohne Bestätigung eines mütterlichen Alkoholkonsums während der Schwangerschaft gestellt werden
Diagnose des partiellen Fetalen Alkoholsyndroms – pFAS
Zur Diagnose eines pFAS sollen alle Kriterien 1. bis 3. (die 3 diagnostischen Säulen des pFAS) zutreffen:
1. faciale Auffälligkeiten,
2. ZNS-Auffälligkeiten
3. intrauterine Alkoholexposition.
Die Wachstum-Säule entfällt für die Diagnose des pFAS.
Zu 1.
Für die Diagnose des pFAS sollen zwei der drei, oben beschriebenen, facialen Auffälligkeiten, dokumentiert zu einem beliebigen Zeitpunkt vorhanden sein.
Zu 2.
Zur Erfüllung des Kriteriums “ZNS-Auffälligkeiten”
sollen mind. 3 der folgenden Auffälligkeiten zutreffen,
die nicht adäquat für das Alter sind
und nicht allein durch den familiären Hintergrund oder das soziale Umfeld erklärt werden können:
- Globale Intelligenzminderung (mind. 2 SD unter der Norm) oder signifikante kombinierte Entwicklungsverzögerung bei Kindern ≤ 2 J.
- Epilepsie
- Mikrocephalie ≤ 10. Perzentile
Leistung mind. 2 SD unter der Norm in den Bereichen:
- Sprache
- Fein-/Graphomotorik oder grobmotorische Koordination
- Räumlich-visuelle Wahrnehmung oder räumlich-konstruktive Fähigkeiten
- Lern- oder Merkfähigkeit
- Exekutive Funktionen
- Rechenfertigkeiten
- Aufmerksamkeit
- Soziale Fertigkeiten oder Verhalten
Im
Gegensatz zum FAS reicht beim pFAS das alleinige Vorliegen einer
Mikrocephalie oder eine Intelligenzminderung nicht für die Diagnose
aus.
Alle mit Aufzählungspunkten versehenen Bereiche gelten als
gleichwertig für die Diagnosestellung.
Zu 3.
Die intrauterine Alkoholexposition sollte für die Diagnose eines pFAS bestätigt oder wahrscheinlich sein, um Über- bzw. Fehldiagnosen zu vermeiden.
Diagnose der alkoholbedingten entwicklungsneurologischen Störung – ARND – alcohol related neurodevelopmental disorders
Zur Diagnose einer ARND sollen die Kriterien 1. und 2. (die 2 diagnostischen Säulen der ARND) zutreffen:
1. ZNS-Auffälligkeiten
2. intrauterine Alkoholexposition
Die Säulen der Wachstums- und facialen Auffälligkeiten entfällt.
Zu 1.
Zur Erfüllung des Kriteriums „ZNS-Auffälligkeiten“
sollen mind. 3 der folgenden Auffälligkeiten zutreffen,
die nicht adäquat für das Alter sind
und nicht allein durch familiären Hintergrund oder das soziale Umfeld erklärt werden können:
- Globale Intelligenzminderung (mind. 2 SD unter der Norm) oder signifikante kombinierte Entwicklungsverzögerung bei Kindern ≤ 2 J.
- Epilepsie
- Mikrocephalie ≤ 10. Perzentile
Leistung mind. 2 SD unter der Norm in den Bereichen:
- Sprache
- Fein-/Graphomotorik oder grobmotorische Koordination
- Räumlich-visuelle Wahrnehmung oder räumlich-konstruktive Fähigkeiten
- Lern- oder Merkfähigkeit
- Exekutive Funktionen
- Rechenfertigkeiten
- Aufmerksamkeit
- Soziale Fertigkeiten oder Verhalten
Zu 2.
Wenn ZNS-Auffälligkeiten vorhanden sind,
soll
die Diagnose einer ARND bei bestätigtem
mütterlichem Alkoholkonsum während der Schwangerschaft gestellt
werden.
Diagnose der alkoholbedingten angeborenen Fehlbildungen – ARBD – alcohol related birth defects
Alcohol related birth defects (ARBD) soll in Deutschland,
wegen der fehlenden Spezifität der Malformationen und
der fehlenden Evidenz für ARBD als eindeutige Krankheits-Entität,
nicht als Diagnose verwendet werden.
SPZ mit FASD Diagnostik in Deutschland
Die Patientenvertretung FASD Deutschland e.V. hat eine Umfrage unter allen deutschen Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) durchgeführt und erfragt, welche SPZ eine FASD-Diagnostik nach S3 Leitlinie durchführen. Die Ergebnisse der Selbstauskünfte finden Sie nach Bundesland geordnet unter dem folgenden Link.
Literatur
- Landgraf MN, Nothacker M, Heinen F. Diagnosis of fetal alcohol syndrome (FAS): German guideline version 2013. Eur J Paediatr Neurol. 2013;17:437-46.
- Landgraf MN, Heinen F. Fetale Alkoholspektrumstörungen – FASD Diagnostik in der Kinder- und Jugendmedizin. Praxisguide der S3 Leitlinie. Monatsschrift Kinderheilkunde 2016. ePub ahead of print Oct 2016: http://link.springer.com/article/10.1007/s00112-016-0191-y.
- Landgraf MN, Heinen F. Fetale Alkoholspektrumstörung, FASD-Diagnostik, S3 Leitlinie Registernr. 022-025, https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/022-025.html
Prognose FASD
Um Kinder und Jugendliche mit FASD mit ihren Einschränkungen zu verstehen und dementsprechend eine adäquate Therapie zu gestalten, benötigt man Wissen über die Prognose von Menschen mit FASD.
Die FASD entspricht einer intrauterinen irreversiblen toxischen Gehirnschädigung. Während Auffälligkeiten im Wachstum und im Gesicht im Entwicklungsverlauf über die Jahre weniger prominent werden können [1], persistieren Defizite in den Gehirnfunktionen ins Erwachsenenalter. Insbesondere die Beeinträchtigungen in den Bereichen Kognition, Exekutivfunktionen, Aufmerksamkeit und Verhalten und dessen Regulation machen nicht nur das Alltagsleben des Kindes und Jugendlichen mit FASD extrem herausfordernd, sondern bewirken oft auch, dass eine selbstständige Lebensführung von Erwachsenen mit FASD ohne Unterstützung unmöglich ist. Dabei gibt es hinsichtlich dieser Prognose keine eindeutigen Unterschiede zwischen FAS, pFAS und ARND, was sicherlich auch an der erschwerten und oft verspäteten Diagnose des pFAS und v.a. der ARND liegt.
Im schulisch-beruflichen Bereich ergab eine deutsche Studie von Spohr & Steinhausen [1], dass 49% der Betroffenen mit FASD eine Förderschule, 38% eine Regel-Grundschule und nur 13% eine weiterführende Schule besucht haben. Lediglich 13% der Erwachsenen mit FASD hatten einmalig einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt. Nur ca. 1/3 der erwachsenen Patienten mit FASD konnten ein selbständiges Leben führen, 2/3 lebten betreut, in Institutionen oder auch im Erwachsenenalter noch mit den Eltern. Aus den funktionellen ZNS-Defiziten resultiert somit im Jugend- und Erwachsenenalter häufig eine gravierende Einschränkung bezogen auf ein selbständiges Leben und Arbeiten sowie auf ein Zurechtkommen in der Gesellschaft.
Eine amerikanische Studie von Streissguth et al [2] ergab, dass 61% der Erwachsenen mit FASD eine abgebrochene Schullaufbahn vorwiesen. 67% der Betroffenen mit FASD berichteten über erlebte körperliche oder sexuelle Misshandlung und 35% hatten selbst ein Alkohol- oder Drogenproblem. 60% der Erwachsenen mit FASD gerieten in Gesetzeskonflikte und 50% waren bereits stationär in einer Klinik oder im Gefängnis.
Popova et al evaluierten die zusätzlichen ICD-10-Diagnosen, die Menschen mit FASD erhielten [3]. Dabei zeigte sich, dass 91% der Menschen mit FASD eine Verhaltensstörung, 55% eine Suchtstörung, 40% eine Psychose, 37% eine Depression und 27% eine Angststörung hatten. 55% der an FASD erkrankten Menschen zeigten suizidales Verhalten. Demnach haben Menschen mit FASD ein deutlich erhöhtes Risiko für psychiatrische Erkrankungen, in einigen Fällen verbunden mit sozialer Isolation und Verwahrlosung.
Wissenschaftlich belegte protektive Faktoren, die ein positives Langzeit-Outcome bei Menschen mit FASD fördern, sind:
- eine frühe Diagnose,
- ein stabiles förderndes Umfeld und
- eine gewaltfreie Umwelt [2, 4].
Literatur
- Spohr HL, Steinhausen HC. Fetal alcohol spectrum disorders and their persisting sequelae in adult life. Deutsches Aerzteblatt International 2008:105, 693-8.
- Streissguth AP et al. Risk Factors for Adverse Life Outcomes in Fetal Alcohol Syndrome and Fetal Alcohol Effects. Journal of Developmental and Behavioral Pediatrics 2004:25, 228–238.
- Popova S, Lange S, Shield K, Mihic A, Chudley AE, Mukherjee RAS, Bekmuradov D, Rehm J. Comorbidity of fetal alcohol spectrum disorder: a systematic review and meta-analysis. Lancet. 2016 Mar 5;387(10022):978-987.
- Alex K, Feldmann R. Children and adolescents with fetal alcohol syndrome (FAS): better social and emotional integration after early diagnosis. Klinische Pädiatrie 2012: 224, 66-71.
Therapie & Versorgung
Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit FASD
Biologisch definierte Gehirnschädigung
Menschen mit FASD haben eine alkoholtoxische Gehirnschädigung, die biologisch nicht reparabel ist. Das bedeutet, dass es keine kausale Therapie für FASD gibt. Funktionelle Therapien und Förderungen, das heißt Maßnahmen, die zwar nicht die Ursache der Krankheit beseitigen, aber gewisse Verbesserungen von Fertigkeiten bzw. Reduktionen von Defiziten bewirken, sind bei Kindern und Jugendlichen mit FASD möglich und medizinisch-ethisch erforderlich.
Diversität der Symptomatik von FASD interindividuell
Hinsichtlich der Förderung ist wichtig zu realisieren, dass die an FASD erkrankten Kinder und Jugendlichen komplexe Defizite in verschiedenen Funktionen des zentralen Nervensystems haben und kein einheitliches neuropsychologisches Profil aufweisen [1]. Eine einheitliche, spezifische Therapie, die diagnosebezogen für alle Patienten des gesamten Spektrums alkoholinduzierter Störungen geeignet wäre, gibt es also nicht. Die Therapie sollte wegen der Symptomvielfalt des FASD daher nicht diagnose-, sondern symptomorientiert ausgerichtet sein sowie individuell geplant und dem jeweiligen Verlauf angepasst werden.
Diversität der Symptomatik von FASD intraindividuell
Die Auffälligkeiten des Kindes mit FASD, die von den Eltern und sonstigen Bezugspersonen beobachtet werden und gemeinsam mit dem Kind bewältigt werden müssen, ändern sich im Entwicklungsverlauf. So zeigen zum Beispiel Säuglinge mit FASD häufig Regulations- und Fütterstörungen; Kleinkinder fallen oft durch unaufmerksames Spiel und geringe Frustrationstoleranz auf; Schulkinder können Schwierigkeiten haben, Freunde zu finden oder zu halten oder sich in eine soziale Gruppe zu integrieren, außerdem haben sie häufig Lern- und Schulprobleme; Jugendliche mit FASD zeigen oft deutliche Aufmerksamkeits-, Impulskontroll-, sonstige Verhaltens- und Schlafstörungen und können in die Delinquenz abrutschen, eine psychiatrische Erkrankung inkl. Suchtstörung entwickeln oder Opfer von Misshandlung werden.
Daher wird bei der Unterstützung einer Familie mit Kindern und/oder Jugendlichen mit FASD aus unserer Erfahrung ein Case Management mit multiprofessionellem Team benötigt, das folgende Aufgaben hat:
- patientenzentrierte Planung
- dynamische Gestaltung
- kontinuierliche Beratung der Eltern und anderer Bezugspersonen
- interdisziplinäre Kommunikation
- Bestimmung von und Zusammenarbeit mit relevanten Netzwerkpartnern
- Kontinuierliche Anpassung der Therapie im Verlauf
Gedächtnisprobleme
Die Therapie von Kindern mit FASD gestaltet sich auch deswegen schwierig, weil viele betroffene Kinder deutlich mehr Wiederholungen, teils über verschiedene Wahrnehmungskanäle, benötigen als gesunde Kinder, um sich Gelerntes längerfristig zu merken. Auch verlieren Kinder mit FASD oft von einem Tag auf den anderen Gelerntes wieder aus dem Gedächtnis bzw. können es nicht mehr abrufen. Dies hat die Konsequenz, dass Lerninhalte, die über Wochen beherrscht wurden, verloren sind und wieder von Null an erarbeitet werden müssen. Dabei sind unter Lerninhalten sowohl schulische Inhalte als auch intra- und extrafamiliäre Verhaltensregeln zu verstehen – der Impact der Merkfähigkeits- und Gedächtnisstörung ist also immens.
Exekutivfunktionsstörungen
Die Störung der Exekutivfunktionen bei Kindern und Jugendlichen mit FASD beinhaltet z.B. Schwierigkeiten, 1) Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zu erkennen, 2) mehrsequentielle Handlungen zu planen und mit Korrekturmöglichkeit auszuführen, 3) aus Fehlern zu lernen und 4) Gelerntes auf andere Situationen, Personen oder ähnliche Aufgaben zu transferieren. Auch von einer Exekutivfunktionsstörung sind viele Bereiche des Lernens, Alltags und häuslichen Lebens betroffen. Wichtig dabei ist auch, dass das aus der Exekutivfunktionsstörung resultierende, inadäquate Verhalten von Kindern und Jugendlichen mit FASD durch Bezugspersonen oft als bewusste (persönliche) Provokation oder Aggression fehlinterpretiert wird. Die aus der Fehlinterpretation folgenden negativen Haltungen und Strafen der Bezugspersonen sind für die Kinder und Jugendlichen mit FASD wiederum nicht verständlich und damit extrem frustrierend oder beängstigend.
Biologisch definierte Gehirnschädigung
Menschen mit FASD haben eine alkoholtoxische Gehirnschädigung, die biologisch nicht reparabel ist. Das bedeutet, dass es keine kausale Therapie für FASD gibt. Funktionelle Therapien und Förderungen, das heißt Maßnahmen, die zwar nicht die Ursache der Krankheit beseitigen, aber gewisse Verbesserungen von Fertigkeiten bzw. Reduktionen von Defiziten bewirken, sind bei Kindern und Jugendlichen mit FASD möglich und medizinisch-ethisch erforderlich.
Diversität der Symptomatik von FASD interindividuell
Hinsichtlich der Förderung ist wichtig zu realisieren, dass die an FASD erkrankten Kinder und Jugendlichen komplexe Defizite in verschiedenen Funktionen des zentralen Nervensystems haben und kein einheitliches neuropsychologisches Profil aufweisen [1]. Eine einheitliche, spezifische Therapie, die diagnosebezogen für alle Patienten des gesamten Spektrums alkoholinduzierter Störungen geeignet wäre, gibt es also nicht. Die Therapie sollte wegen der Symptomvielfalt des FASD daher nicht diagnose-, sondern symptomorientiert ausgerichtet sein sowie individuell geplant und dem jeweiligen Verlauf angepasst werden.
Diversität der Symptomatik von FASD intraindividuell
Die Auffälligkeiten des Kindes mit FASD, die von den Eltern und sonstigen Bezugspersonen beobachtet werden und gemeinsam mit dem Kind bewältigt werden müssen, ändern sich im Entwicklungsverlauf. So zeigen zum Beispiel Säuglinge mit FASD häufig Regulations- und Fütterstörungen; Kleinkinder fallen oft durch unaufmerksames Spiel und geringe Frustrationstoleranz auf; Schulkinder können Schwierigkeiten haben, Freunde zu finden oder zu halten oder sich in eine soziale Gruppe zu integrieren, außerdem haben sie häufig Lern- und Schulprobleme; Jugendliche mit FASD zeigen oft deutliche Aufmerksamkeits-, Impulskontroll-, sonstige Verhaltens- und Schlafstörungen und können in die Delinquenz abrutschen, eine psychiatrische Erkrankung inkl. Suchtstörung entwickeln oder Opfer von Misshandlung werden.
Daher wird bei der Unterstützung einer Familie mit Kindern und/oder Jugendlichen mit FASD aus unserer Erfahrung ein Case Management mit multiprofessionellem Team benötigt, das folgende Aufgaben hat:
- patientenzentrierte Planung
- dynamische Gestaltung
- kontinuierliche Beratung der Eltern und anderer Bezugspersonen
- interdisziplinäre Kommunikation
- Bestimmung von und Zusammenarbeit mit relevanten Netzwerkpartnern
- Kontinuierliche Anpassung der Therapie im Verlauf
Gedächtnisprobleme
Die Therapie von Kindern mit FASD gestaltet sich auch deswegen schwierig, weil viele betroffene Kinder deutlich mehr Wiederholungen, teils über verschiedene Wahrnehmungskanäle, benötigen als gesunde Kinder, um sich Gelerntes längerfristig zu merken. Auch verlieren Kinder mit FASD oft von einem Tag auf den anderen Gelerntes wieder aus dem Gedächtnis bzw. können es nicht mehr abrufen. Dies hat die Konsequenz, dass Lerninhalte, die über Wochen beherrscht wurden, verloren sind und wieder von Null an erarbeitet werden müssen. Dabei sind unter Lerninhalten sowohl schulische Inhalte als auch intra- und extrafamiliäre Verhaltensregeln zu verstehen – der Impact der Merkfähigkeits- und Gedächtnisstörung ist also immens.
Exekutivfunktionsstörungen
Die Störung der Exekutivfunktionen bei Kindern und Jugendlichen mit FASD beinhaltet z.B. Schwierigkeiten, 1) Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zu erkennen, 2) mehrsequentielle Handlungen zu planen und mit Korrekturmöglichkeit auszuführen, 3) aus Fehlern zu lernen und 4) Gelerntes auf andere Situationen, Personen oder ähnliche Aufgaben zu transferieren. Auch von einer Exekutivfunktionsstörung sind viele Bereiche des Lernens, Alltags und häuslichen Lebens betroffen. Wichtig dabei ist auch, dass das aus der Exekutivfunktionsstörung resultierende, inadäquate Verhalten von Kindern und Jugendlichen mit FASD durch Bezugspersonen oft als bewusste (persönliche) Provokation oder Aggression fehlinterpretiert wird. Die aus der Fehlinterpretation folgenden negativen Haltungen und Strafen der Bezugspersonen sind für die Kinder und Jugendlichen mit FASD wiederum nicht verständlich und damit extrem frustrierend oder beängstigend.
Ein interdisziplinäres Setting mit einem multiprofessionellen Team (wie z.B. in einem Sozialpädiatrischen Zentrum – SPZ) ist für die frühzeitige und adäquate Diagnosestellung und darauffolgende Initiierung, Koordination und im Verlauf Anpassung der Therapie und Förderung sowie langfristige Begleitung und Unterstützung der Familien für die meisten Kinder und Jugendlichen mit FASD sinnvoll und notwendig.
Tipps für den Alltag
Wir haben zu verschiedenen wichtigen Themen rund um FASD Informationen für Sie zusammengetragen. Unter diesem Link können Sie Experten- Videos, Häufige Fragen & Antworten und Eltern-Inputs ansehen. Die Themen können sowohl für Familien als auch für Fachkräfte interessant sein.
Literatur
- Goh YI, Chudley AE, Clarren SK, et al. Development of Canadian screening tools for fetal alcohol spectrum disorder. The Canadian Journal of Clinical Pharmacology 2008: 15, e344-e366.
- Kodituwakku PW. A neurodevelopmental framework for the development of interventions for children with fetal alcohol spectrum disorders. Alcohol 2010:44, 717-728.
- Kodituwakku PW, Kodituwakku EL. From research to practice: An integrative framework for the development of interventions for children with fetal alcohol spectrum disorders. Neuropsychology Review 2011:21, 204-223.
- Bertrand J. Interventions for children with fetal alcohol spectrum disorders (FASDs): overview of findings for five innovative research projects. Research in Developmental Disabilities 2009:30, 986-1006.
- Landgraf MN, Giese RM, Heinen M. Fetale Alkoholspektrumstörungen – Diagnose, neuropsychologische Testung und symptomorientierte Förderung. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2017:45 (2),104–117
- Wells, A. M., Chasnoff, I. J., Schmidt, C. A., Telford, E., & Schwartz, L. D. Neurocognitive habilitation therapy for children with fetal alcohol spectrum disorders: an adaptation of the Alert Program®. The American Journal Of Occupational Therapy: Official Publication Of The American Occupational Therapy Association 2012:66(1), 24-34.
- O’Connor, M. J., Frankel, F., Paley, B., Schonfeld, A. M., Carpenter, E., Laugeson, E. A., & Marquardt, R. A controlled social skills training for children with fetal alcohol spectrum disorders. J Consult Clin Psychol 2006:74(4), 639-648.
- O’Connor, M. J., Laugeson, E. A., Mogil, C., Lowe, E., Welch‐Torres, K., Keil, V., & Paley, B. Translation of an evidence‐based social skills intervention for children with prenatal alcohol exposure in a community mental health setting. Alcoholism: Clinical and Experimental Research 2012:36(1), 141-152.
Netzwerkpartner
Um die Diagnostik, Förderung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit FASD adäquat und effektiv zu gestalten, benötigt die betroffene Familie Fachkräfte verschiedener Berufe und verschiedener Institutionen. Diese haben die Aufgabe, gemeinsam Behandlungspläne zu erstellen, Therapie-Inhalte abzusprechen, transparent zu kommunizieren und Hilfen für die Familie zu koordinieren.
Die Verantwortung für die Erfüllung dieser Aufgabe liegt bei Ihnen allen. Sie tragen damit essentiell dazu bei, die Bedürfnisse der betroffenen Familien soweit wie möglich zu erfüllen, Betreuungswechsel für das Kind zu minimieren und das Langzeit-Outcome des Kindes hinsichtlich selbstständiger Lebensführung zu verbessern.
Um Sie dabei zu unterstützen, haben wir unter diesem Link Informationen zu möglichen relevanten Netzwerkpartnern für die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit FASD zusammengestellt.
Sozialrechtliche Aspekte
Ein wichtiger Bestandteil der Versorgung ist neben der Diagnose- und Therapieplanerstellung auch die Ermittlung des Hilfebedarfes. Darüber hinaus muss der zuständige Kostenträger bestimmt werden, über welchen entsprechende Unterstützungsmaßnahmen, wie z. B. eine adaptierte pädagogische Begleitung des Kindes oder Jugendlichen mit FASD oder Hilfen zur Alltagsbewältigung, finanziert werden können.
Da mit einer FASD immer funktionelle Auffälligkeiten des Zentralnervensystems (ZNS) einhergehen, ist es möglich, auf sozialrechtlicher Ebene Ansprüche geltend zu machen. Das Ausmaß der alkoholtoxischen Gehirnschädigung ist hier die Basis für die Beantragung eines Pflegegrades oder Schwerbehindertenausweises. Dies kann hilfreich sein, um im privaten Bereich eine Entlastung der Betreuungspersonen zu finanzieren oder den Betroffenen einen Nachteilsausgleich im Schulalltag, später im Berufsleben zu sichern. Aber auch die Krankheitsakzeptanz des Umfeldes wird in der Regel damit erhöht, was wiederum die Bereitschaft in Hinblick auf die Etablierung von Hilfemaßnahmen
positiv beeinflussen kann.